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Psychiatrie und Strafjustiz

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da habe er im Zorne den unheilvollen Entschluss gefasst, den er sofort ausführte». Er habe die Tat nicht<br />

vorsätzlich begangen; diese sei «ausschliesslich die Folge seines Jähzorns, für den er nichts könne». Er<br />

habe gewusst, «dass er mit seiner Tat ein Unrecht begehe; dass es ihm nicht gestattet sei, in geschehener<br />

Weise sich selbst Recht zu verschaffen, aber in der zornigen Aufregung, in die er geraten, habe er die Sa-<br />

che nicht mehr überlegen können <strong>und</strong> habe so das Unglück angestellt. Er gerate oft wegen kleiner Dinge<br />

in grossen Zorn, wobei er sich nicht zu bemeistern möge». 861 Binggelis Deutung der Tat, die seinen «Jäh-<br />

zorn» ins Zentrum stellte, entsprach somit weitgehend der Einschätzung der Tat durch seine Umgebung.<br />

Indem er jeden Vorsatz in Abrede stellte, verlegte er sich zugleich auf eine Strategie, die ihm eine Recht-<br />

fertigung der Tat erlaubte.<br />

Aussagen <strong>und</strong> Grenzen des ersten Gutachtens<br />

Die psychiatrischen Sachverständigen setzten sich in ihrem Gutachten vor allem mit zwei Problemen aus-<br />

einander. Einerseits erörterten sie die Frage, ob Binggeli an einer eigentlichen Geisteskrankheit litt. Dazu<br />

lag ihnen ein Bericht des Direktors der Waldau über die früheren Anstaltsaufenthalte Binggelis vor. Ob-<br />

gleich das Gutachten diesen Bericht ausführlich referierte, unterschlug es dessen Schluss, dass Binggeli an<br />

einer «Katatonie», einer Unterform der «Dementia praecox», leide. 862 Die beiden Experten aus Münsingen<br />

stellten im Gegensatz zu ihrem Kollegen keine «krankhaften Erscheinungen» fest. 863 Ausführlicher disku-<br />

tierte das Gutachten die Frage, ob Binggeli seine Tat vorsätzlich oder im Affekt begangen habe. Die Sach-<br />

verständigen stellten zunächst fest, dass das «Binggelische Haus» gegen aussen «keine auffallenden Miss-<br />

helligkeiten» gezeigt habe. Zwar sei das «etwas sonderbare Betragen» von Christian bekannt gewesen, man<br />

sich jedoch daran gewöhnt, «ihn seiner Wege gehen <strong>und</strong> in Ruhe zu lassen». Dennoch habe ein «schwerer<br />

<strong>und</strong> dauernder Druck» auf der Familie gelastet, «bedingt durch den wechselnden, verschlossenen,<br />

misstrauischen, reizbaren <strong>und</strong> heftigen Charakter Christians [...]» 864 Was die Tat anbelangte, verneinten die<br />

Experten die Version Binggelis, dass er die Tat in einer «hochgradigen Zornwallung, in der augenblickli-<br />

chen Aufregung eines plötzlichen Affektausbruches, die Vorbedacht <strong>und</strong> Überlegung ausschloss» began-<br />

gen habe. In ihren Augen machten die Art <strong>und</strong> Weise, wie Binggeli seinen Sohn in den nahe gelegenen<br />

Wald führte, diesen dort erschoss <strong>und</strong> zum Hof zurückkehrte, sowie die Tatsache, dass er bereits ein hal-<br />

bes Jahr vor der Tat einen Revolver gekauft hatte, die Annahme einer Affekthandlung unwahrscheinlich.<br />

Zudem zeige Binggeli, wie es bei einer «unbesonnenen Affekthandlung» zu erwarten gewesen wäre, keine<br />

«eigentliche Reue». 865<br />

Das Ausschliessen einer Geisteskrankheit <strong>und</strong> einer Affekthandlung hätte eigentlich die Schlussfolgerung<br />

nahe gelegt, dass Binggeli seine Tat vorsätzlich begangen hatte. Die beiden Sachverständigen verneinten<br />

jedoch auch eine solche Deutung der Tat. In ihren Augen machte gerade der Umstand, dass Binggeli mit<br />

seiner Tat das erreichen musste, was er eigentlich verhindern wollte – dass das Heimwesen der Familie in<br />

die Hände des verhassten Bruders gelangte –, die Annahme einer vorsätzlichen Tat höchst unwahrschein-<br />

lich. Eine Handlung, die ihrem Urheber aus nahe liegenden Gründen nur zu Schaden gereichen konnte,<br />

erschien den Psychiatern mit der Annahme eines Vorsatzes nicht vereinbar zu sein. Sie machten deshalb<br />

gerade das Fehlen einer solchen Zweckrationalität zum Angelpunkt ihres Deutungsversuchs: «Die Schwie-<br />

861 Glaser, 1901, 347f.<br />

862 Glaser, 1901, 334-336; StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Ärztlicher Bericht der Waldau, 23. Juni 1900: «Ich habe<br />

Binggeli als einen konstitutionell abnormen Kranken angesehen mit periodischen Anfällen nicht ganz klaren melancholischwahnsinnigen<br />

Charakters. Das Krankheitsbild wird heute wohl klarer als Katatonie [eine Unterform der Dementia praecox]aufzufassen<br />

sein.»<br />

863 Glaser, 1901, 360.<br />

864 Glaser, 1901, 354.<br />

865 Glaser, 1901, 356f.<br />

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