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Psychiatrie und Strafjustiz

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verständnis von Verteidigung <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft als unzurechnungsfähig beurteilt <strong>und</strong> zur Verwah-<br />

rung überwiesen. 803<br />

Fazit: Alltagswahrnehmungen <strong>und</strong> die Sensibilisierung der Justizbehörden<br />

Was in all den angeführten Fallbeispielen erstaunen mag, ist die faktische Abwesenheit der Psychiater bei<br />

der Anordnung von Begutachtungen. Dies erklärt sich dadurch, dass die Mechanismen, die zu einer psychiatrischen<br />

Begutachtung führten, dem direkten Einfluss der Psychiater weitgehend entzogen waren. Es<br />

zeigt sich, dass am Anfang einer potenziellen Medikalisierung kriminellen Verhaltens die Wahrnehmungen<br />

von praktizierenden Ärzten <strong>und</strong> medizinischen Laien, das heisst von Untersuchungsbeamten, Richtern,<br />

Verteidigern, Amtspersonen oder Verwandten <strong>und</strong> Bekannten der Angeschuldigten, standen. Medikalisie-<br />

rungstendenzen in der Strafrechtspflege können deshalb nur bedingt als Resultat irgendwelcher psychiatri-<br />

scher «Professionalisierungsbestrebungen» betrachtet werden. Bereits in der Einleitung ist darauf hinge-<br />

wiesen worden, dass die Annahme einer zielgerichteten Verfolgung eines professional project durch die Psy-<br />

chiatrie die festgestellte Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis nicht hinreichend<br />

zu erklären vermag. Die untersuchten Fallbeispiele machen wiederum klar, dass die Entscheide zu einer<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens das Ergebnis von Aushandlungs- <strong>und</strong> Selektionsprozessen waren,<br />

an denen unterschiedliche AkteurInnen mit unterschiedlichen Hintergründen beteiligt waren. Entschei-<br />

dend dafür, dass die Justizbehörden eine psychiatrische Begutachtung der Angeschuldigten überhaupt in<br />

Betracht zogen, waren komplexe Sensibilisierungsprozessen gegenüber «abnormem» Verhalten im «Vor-<br />

hof der Justiz» (Gerd Schwerhoff), also in jenen Phasen des Strafverfahrens, die dem eigentlichen Gerichtsurteil<br />

vorausgingen. 804 Im Untersuchungsverfahren <strong>und</strong> zuweilen auch im Hauptverfahren verfügten<br />

die Justizbehörden kaum über gesicherte Angaben über den Geisteszustand eines Angeschuldigten. Aus-<br />

nahmen bildeten lediglich solche Fälle, wo bereits medizinische Selektionsleistungen vorlagen, sei es in<br />

Form von Attesten praktizierender Ärzte oder Hinweise auf frühere Aufenthalte in Irrenanstalten. Aber<br />

auch in solchen Fällen blieb die Relevanz der festgestellten Geistesstörungen für die eingeklagten Taten<br />

oft vage. Von zentraler Bedeutung für das Zustandekommen von Begutachtungsbeschlüssen waren denn<br />

auch Wahrnehmungen <strong>und</strong> Einschätzungen von ZeugInnen <strong>und</strong> Untersuchungsbeamten. Dies wird ex-<br />

emplarisch in den erwähnten Fällen von Lina H. oder Jakob M. deutlich, wo der vage Eindruck des Unter-<br />

suchungsrichters, respektive eine Zeugenaussage, wonach der Angeschuldigte «nicht ganz bei Sinnen» sei,<br />

zu psychiatrischen Begutachtungen führten. Solche Alltagswahrnehmungen folgten häufig den Prinzipien<br />

der Vermutung <strong>und</strong> des Verdachts. Sie bezogen sich, wie das Beispiel von Christian G. zeigt, mehr auf<br />

traditionelle Vorstellungen von «Wahnsinn» <strong>und</strong> «Verrücktheit» als auf neuere psychiatrische Deutungs-<br />

muster oder stellten, wie im Fall von Jakob M., soziales Fehlverhalten in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Wenn ein Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> auf geistesgestörte DelinquentInnen nur mittelbar über die Justizbehör-<br />

den erfolgen konnte, stellt sich im Gegenzug die Frage nach den Gründen für deren Bereitschaft, Straftä-<br />

terInnen in einem wachsenden Ausmass psychiatrisch begutachten zu lassen. Zur Diskussion stehen damit<br />

die handlungsleitenden Motive der Justizbehörden bei der Inanspruchnahme psychiatrischer Fachkompe-<br />

tenzen. Unabhängig von den Besonderheiten der jeweiligen Einzelfälle, lassen sich in diesem Zusammen-<br />

hang drei Faktoren anführen. Erstens gehörte es zu den Prinzipen der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong>, dass geistes-<br />

gestörte Personen für ihre Handlungen nicht zur Verantwortung gezogen durften. Geistesgestörte Delin-<br />

quentInnen markierten gleichsam die Grenze des staatlichen Strafanspruchs. Wie aufgezeigt worden ist,<br />

fanden diese Prinzipien um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Eingang in die Berner Strafgesetzgebung <strong>und</strong><br />

803 StAB BB 15.4, Band 87, Verhandlung der Assisen, 19. März 1898; Verhandlung der Assisen, 17. August 1898.<br />

804 Schwerhoff, 1999, 107-111.<br />

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