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Psychiatrie und Strafjustiz

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sche Gutachten unterlagen demnach im gesamten Untersuchungszeitraum einer freien Würdigung durch<br />

die Justizorgane. Da das Berner Strafverfahren die für die bürgerliche <strong>Strafjustiz</strong> charakteristische funktio-<br />

nale Trennung zwischen Tatsachenerhebung <strong>und</strong> Rechtsfolgebestimmung gesetzlich verankerte, besassen<br />

psychiatrische Gutachten lediglich den Stellenwert eines wissenschaftlich legitimierten Deutungsangebots<br />

zuhanden der Justizbehörden. Das Berner Strafverfahren begegnete der psychiatrischen Expertenmeinung<br />

sogar mit einer zusätzlichen Hürde. Allgemein galt ein Gutachten von zwei Sachverständigen als ein «voll-<br />

kommener Beweis, wenn sie die Untersuchung den hier einschlagenden Bestimmungen des vorliegenden<br />

Gesetzbuches gemäss vorgenommen haben, <strong>und</strong> wenn im Übrigen ihr Bef<strong>und</strong> genügend gerechtfertigt<br />

ist». 630 Artikel 348 schränkte diese formale Beweistheorie allerdings in Bezug auf psychiatrische Gutachten<br />

beträchtlich ein: «Das Befinden der Sachverständigen über Geisteskrankheiten hat nur dann volle Beweis-<br />

kraft, wenn es durch andere Umstände bekräftigt wird oder wenn die Richter durch eigene Sinneswahr-<br />

nehmungen über die Tatsache eine Überzeugung haben gewinnen können.» 631 Im Gegensatz zu ihren<br />

gerichtsmedizinischen Kollegen konnten sich die psychiatrischen Sachverständigen nicht auf die wissen-<br />

schaftlichen Standards ihrer Disziplin berufen, sondern hatten in ihren Gutachten zusätzlich eine für me-<br />

dizinische Laien nachvollziehbare Plausibilität herzustellen. In dieser Bestimmung kommen die Vorbehal-<br />

te des Gesetzgebers gegenüber der 1850 in der Schweiz noch kaum institutionalisierten «Seelenheilk<strong>und</strong>e»<br />

zum Ausdruck. Es erstaunt daher nicht, dass diese Bestimmung um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende zum Gegens-<br />

tand der Kritik der Psychiater wurde, die sich gegen den geringen Stellenwert ihrer Expertenmeinung<br />

wandten. 1909 eröffnete der Direktor der Waldau einen Vortrag vor dem Berner Hilfsverein für Geisteskranke<br />

mit dem Hinweis auf einen Fall, wo die Nichtbefolgung eines psychiatrischen Gutachtens durch die Ge-<br />

schworenen zu einer ungerechtfertigten Verurteilung eines «entschieden Gestörten» geführt hätte. Von<br />

Speyr machte dafür in erster Linie Artikel 348 des Strafverfahrens verantwortlich <strong>und</strong> verlangte, «dass das<br />

Gutachten eines gewissenhaften Sachverständigen mehr gelten sollte». 632 Ähnlich wie die Postulate Forels<br />

oder Franks signalisierte von Speyrs Votum die latente Unzufriedenheit der Psychiater mit ihrem berufli-<br />

chen Status, die, wie noch zu zeigen sein wird, die Begutachtungspraxis allerdings kaum nachhaltig zu<br />

beeinträchtigen vermochte. Aufgehoben wurde die ungleiche Behandlung von körpermedizinischen <strong>und</strong><br />

psychiatrischen Gutachten erst im revidierten Strafverfahren von 1928. Beibehalten wurde aber auch darin<br />

der Gr<strong>und</strong>satz, wonach die Justiz Gutachten einer freien Würdigung unterziehen konnte. So hielt ein juris-<br />

tischer Kommentar zum neuen Gesetz apodiktisch fest: «Die Beweiswürdigung auf Gr<strong>und</strong> der Expertise<br />

<strong>und</strong> die Subsumption des als bewiesen betrachteten Tatbestandes unter das Strafgesetz ist Aufgabe des<br />

Richters, nicht des Experten.» 633<br />

Für die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern ebenfalls von Belang war die bereits angeschnit-<br />

tene Frage, ob ein Strafverfahren von den Untersuchungsbehörden allein aufgr<strong>und</strong> eines psychiatrischen<br />

Gutachtens eingestellt werden durfte. Diese Frage hatte zwei Aspekte. Einerseits setzte sie die Untersu-<br />

chungsbehörden <strong>und</strong> indirekt auch die Psychiater dem Vorwurf der Öffentlichkeit aus, sie würden Straftä-<br />

terInnen der verdienten Strafe entziehen. Andererseits wurden bei solchen Verfahrenseinstellungen die<br />

Angeklagten um ihre Verteidigungsrechte gebracht, die ihnen vor Gericht zugestanden wären. Dieser<br />

zweite Aspekt war vor allem im Zusammenhang mit der Verhängung von «Sicherungsmassregeln» gegen<br />

unzurechnungsfähige <strong>und</strong> «gemeingefährliche» DelinquentInnen aufgr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafge-<br />

setzbuchs von Bedeutung. Wie in Kapitel 8 gezeigt wird, beantragten die Untersuchungsbehörden gegen<br />

630 StV 1850, Artikel 347.<br />

631 StV 1850, Artikel 348.<br />

632 Speyr, 1909, 8.<br />

633 Waiblinger, 1942, 241 (Zitat), 246-248.<br />

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