13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

funktionierten solche Praktiken der Informationsbeschaffung im Rahmen eigentlicher Wissen-Macht-<br />

Komplexe. So waren die in den Untersuchungsakten enthaltenen Informationen im Laufe eines normier-<br />

ten Strafverfahrens produziert worden, dass den Untersuchungsbehörden weit gehende Kompetenzen zur<br />

Befragung von Verdächtigten <strong>und</strong> Zeugen sowie zur Feststellung von Sachverhalten einräumte. Im Fall<br />

von Anstaltsbeobachtungen war die Möglichkeit, ExplorandInnen zwangsweise einzuweisen, Vorausset-<br />

zung für eine längere Beobachtung <strong>und</strong> die Konstitution eines verschriftlichten Disziplinar- <strong>und</strong> Normali-<br />

sierungswissens in Form von Krankenakten <strong>und</strong> Testverfahren. Die Produktion eines psychiatrischen<br />

Strafwissens war demnach eng an juristische <strong>und</strong> medizinisch-administrative Machtstrukturen, Institutionen<br />

<strong>und</strong> Akteure geb<strong>und</strong>en. Soziale Machtverhältnisse konditionierten ebenfalls die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />

psychiatrische Sachverständige Informationen selektierten <strong>und</strong> klassifizierten. So massen sie in der Regel<br />

offiziellen <strong>und</strong> offiziösen Quellen einen höheren Informationswert zu als etwa den Aussagen der Explo-<br />

randInnen oder deren Angehörigen. Wie am Fall von Johann G. deutlich wird, übernahmen sie teilweise<br />

die Perspektive der Untersuchungsakten bereits im Stadium der Anamnese <strong>und</strong> unterliefen dadurch die<br />

durch die Zweiteilung der Gutachten vorgegebene Trennung von Fakten <strong>und</strong> Wertungen. Eine soziale<br />

Konditionierung der Wissensproduktion lässt sich ebenfalls im Fall der Testverfahren feststellen, die oft<br />

implizit bürgerliche Bildungs- <strong>und</strong> Verhaltensnormen transportierten. Die Sachverständigen verstanden<br />

sich aber im Gegenzug auch als Zuträger der Justiz, indem sie Informationen über die ExplorandInnen an<br />

die Untersuchungsbehörden weiterleiteten. Im Gegenzug eröffnete die psychiatrische Begutachtung auch<br />

den Angeschuldigten Spielräume, um sich Gehör zu verschaffen <strong>und</strong> ihre Sicht der Dinge in das Strafver-<br />

fahren einzubringen. Teilweise durchbrochen wurde diese administrative Perspektive dadurch, dass die<br />

Sachverständigen auf Informationen aus der Lebenswelt der ExplorandInnen angewiesen waren. Wie an<br />

verschiedenen Beispielen gezeigt werden konnte, konnten sich dabei Laien- <strong>und</strong> Expertenperspektiven<br />

durchaus überlappen. Alltagswissen floss zum einen direkt in die psychiatrischen Gutachten ein, zum an-<br />

dern nahmen medizinische Laien teilweise psychiatrische Diagnosen vorweg. Die forensisch-<br />

psychiatrische Praxis war demnach, um funktionieren zu können, nicht nur im Hinblick auf die Sensibili-<br />

sierung der Justizbehörden gegenüber psychischen «Abnormitäten», sondern auch hinsichtlich der Infor-<br />

mationsbeschaffung auf Alltagswissen angewiesen.<br />

7.4 Psychiatrische Begutachtungen als Bestandteil kollektiver Sinngebungsprozesse<br />

Die Begutachtung von Johann G. zeigt, dass Informationsbeschaffungspraktiken <strong>und</strong> Deutungen krimi-<br />

nellen Verhaltens fliessend ineinander übergingen. Dass psychiatrische Begutachtungen als Bestandteile von<br />

Sinngebungsprozessen anzusehen sind, hat in der historischen Forschung vor allem Regina Schulte hervorge-<br />

hoben. 849 Indem Psychiater die strafrechtliche Verantwortlichkeit von DelinquentInnen beurteilten, pro-<br />

duzierten <strong>und</strong> transformierten sie Deutungen kriminellen Verhaltens, die sich nicht nur an die Justizbe-<br />

hörden richteten, sondern auch in weiteren Kreisen Resonanz zu entfalten vermochten. Dadurch dass das<br />

bürgerliche Strafrecht das Prinzip der Öffentlichkeit für Gerichtsverfahren statuierte, erweiterte es<br />

zugleich den Adressatenkreis juristisch-medizinischer Deutungsversuche. Verbrechen <strong>und</strong> Normverstösse<br />

wurden in der bürgerlichen Gesellschaft zu Gegenständen eines öffentlichen Räsonnements, das sich im<br />

Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts nach <strong>und</strong> nach in eine massenmedial geprägte Öffentlichkeit transformierte.<br />

Im Gegenzug wurde die <strong>Strafjustiz</strong> dadurch zu einem potenziellen Objekt herrschaftskritischer Diskur-<br />

se. 850 Dass Verbrechen <strong>und</strong> andere Normverstösse kollektive Bedürfnisse nach Sinngebung hervorriefen,<br />

war allerdings keineswegs ein Phänomen der Moderne. Erinnert sei an dieser Stelle an die frühneuzeitli-<br />

849 Schulte, 1989, 91, 96; Lukas/Wernz/Lederer, 1994, 175f.<br />

850 Vgl. Habermas, 1990.<br />

193

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!