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Psychiatrie und Strafjustiz

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3 <strong>Psychiatrie</strong>, Kriminalanthropologie <strong>und</strong> Strafrechtsreform 1870–1910<br />

Im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts geriet das bürgerliche Strafrecht zunehmend selbst unter Beschuss.<br />

Die in den 1870er Jahren einsetzende Strafrechtskritik hatte vor allem zwei Stossrichtungen. Zum einen<br />

beklagten sich europaweit Juristen <strong>und</strong> Richter über die Ineffizienz der <strong>Strafjustiz</strong>, die sich in ansteigenden<br />

Kriminalitätsrate <strong>und</strong> Rückfallsquoten niederschlagen würde. Der deutsche Strafrechtler Franz von Liszt<br />

stellte beispielsweise 1882 eine «allgemeine Unzufriedenheit mit den praktischen Erfolgen [...] der Strafge-<br />

setzgebung» <strong>und</strong> ein «wachsendes Entsetzen über die in der Kriminalstatistik zum Ausdruck gelangende<br />

Ohnmacht der doktrinären Strafrechtspflege» fest. 222 Was er forderte, war eine Anpassung der liberalen<br />

Strafrechtsdogmatik an die veränderten «Erscheinungen des Lebens» <strong>und</strong> die Erkenntnisse der Human-<br />

wissenschaften. 223 Zum andern nahmen Gerichtsärzte <strong>und</strong> Psychiater in den 1870er Jahren ihre bereits in<br />

der ersten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte geübte Kritik an einer mangelhaften Berücksichtigung zweifelhafter Geistes-<br />

zustände durch die Justiz wieder auf. Sie betonten, dass viele Insassen von Strafanstalten an unerkannt<br />

gebliebenen Geistesstörungen leiden würden. Der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing<br />

(1840–1902) sprach etwa 1871 davon, dass ein grosser Teil der Strafgefangenen lediglich «Scheinverbrecher»<br />

seien, die in Wahrheit an einer «ethischen Depravation» aufgr<strong>und</strong> organischer Hirnveränderungen<br />

leiden würden <strong>und</strong> deshalb als unzurechnungsfähig gelten müssten. 224 Für Krafft-Ebing war klar, dass<br />

dieser unbefriedigenden Situation nur durch das vermehrte Hinzuziehen psychiatrischer Sachverständiger<br />

durch die Justizorgane abgeholfen werden konnte. Die nach 1870 einsetzende Strafrechtskritik war aber<br />

nicht nur Ausdruck solcher disziplinärer Ansprüche, sondern auch Zeichen einer wachsenden Sensibilität<br />

der bürgerlichen Eliten gegenüber abweichendem <strong>und</strong> kriminellen Verhalten. Untersuchungen über die<br />

Lebensbedingungen der classes dangereuses der Grossstädte, die quantitative Erfassung des Verbrechens in<br />

«Moralstatistiken», die Problematisierung des Strafvollzugs durch die neu entstandene Gefängniswissen-<br />

schaft sowie die Effizienzsteigerung der Strafverfolgung durch die Optimierung der polizeilichen Ermitt-<br />

lungstätigkeit hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zur Folge, dass kriminelles Verhalten in<br />

einem neuen Masse gesellschaftlich sichtbar wurde. 225 Namentlich die konstatierte Zunahme der Rückfäl-<br />

ligkeit erschien bürgerlichen Kriminalpolitikern, Juristen <strong>und</strong> Ärzten als untrügliches Zeichen einer Krise,<br />

der die Justiz <strong>und</strong> Gesellschaft gleichermassen ohnmächtig gegenüber standen.<br />

Die sich in diesem Krisenbewusstsein manifestierende Unfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, Krimi-<br />

nalität wirkungsvoll zu bekämpfen <strong>und</strong> straffällig gewordene Menschen zu integrieren, setzte Lernprozes-<br />

se in Gang, die neue Deutungsmuster kriminellen Verhaltens <strong>und</strong> neue kriminalpolitische Optionen her-<br />

vorbrachten. Medikalisierungstendenzen spielten dabei sowohl auf der auf der Ebene der Deutungsmuster, als<br />

auch bei der Formulierung neuer juristischer Bewältigungsstrategien eine zentrale Rolle. Medizinische Deutungs-<br />

muster sowie Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte lieferten den Kritikern des bürgerlichen Strafrechts<br />

sowie den auf die Ausweitung ihrer Kompetenzen bedachten Psychiatern willkommene Optionen zur<br />

Umgestaltung <strong>und</strong> Effizienzsteigerung der Strafrechtspflege. So erlangten in den Jahrzehnten vor dem<br />

Ersten Weltkrieg psychiatrische Deutungsmuster, die kriminelles Verhalten auf eine angeborene krankhaf-<br />

te Konstitution zurückführten, in der Justizpraxis <strong>und</strong> den kriminalpolitischen Diskussionen eine wach-<br />

sende Verbreitung. Damit einher ging eine Bedeutungszunahme des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds<br />

für die Rechtsprechung <strong>und</strong> die psychiatrische Disziplin.<br />

222 Liszt, 1883, 4. Zur Strafrechtsreform als Krisenphänomen: Garland, 1985.<br />

223 Zu von Liszts Gegenüberstellung von «Leben» <strong>und</strong> «Begriff»: Andriopoulos, 1996, 74; Frommel, 1991,481.<br />

224 Krafft-Ebing, 1871, 363; vgl. Wetzell, 2000, 40f.<br />

225 Vgl. Nutz, 2001; Wetzell, 2000, 21-38; Regener, 1999; Stalder, 1998; Roth, 1997; Gadebusch Bondio, 1995, 1995; Digneffe,<br />

1995, 141-175; Becker, 1994; Becker, 1992; Leps, 1992, 17-31; Radzinowicz, 1991, 15-21; Nye, 1984; Chevalier, 1958.<br />

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