13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ten. Schliesslich reproduzierte das Gutachten fast vollständig den Leum<strong>und</strong>sbericht, den die Heimatge-<br />

meinde zuhanden der Untersuchungsbehörden abgegeben hatte. Demnach war Johann G. nicht vorbe-<br />

straft, obwohl er, falls eine Anzeige vorgelegen hätte, im Vorjahr wegen Diebstahls <strong>und</strong> Tierquälerei hätte<br />

bestraft werden müssen. Zudem sei er wiederholt «arglistig verübter Beleidigungen» verdächtigt worden,<br />

da sein Benehmen dem Publikum «auffällig <strong>und</strong> sonderbar» vorgekommen sei. Seiner «eingebildeter Hal-<br />

tung» wegen sei er, wie es im Leum<strong>und</strong>szeugnis abschliessend hiess, bei der «Bewohnerschaft nicht be-<br />

sonders beliebt». 814<br />

Im Fall von Johann G. schloss die Informationsbeschaffung der psychiatrischen Sachverständigen eng an<br />

die Ermittlungs- <strong>und</strong> Untersuchungstätigkeit der Untersuchungsbehörden an. Dank der Einsicht in die<br />

Untersuchungsakten vermochten die Psychiater von den grossen Kompetenzen der Justizbehörden zur<br />

Einvernahme von Zeugen <strong>und</strong> zur Feststellung von Sachverhalten profitieren. Sie gelangten dadurch zu<br />

Informationen, deren Beschaffung ihnen selbst einen beträchtlichen zeitlichen Aufwand geboten hätte.<br />

Allerdings deckten sich die Informationsbedürfnisse der Untersuchungsbeamten <strong>und</strong> der Psychiater nicht<br />

vollständig. Untersuchungsakten, die Aussagen über den Tathergang sowie die Herkunft <strong>und</strong> das Umfeld<br />

des Angeschuldigten enthielten, waren primär im Hinblick auf die Klärung des Hergangs <strong>und</strong> der Urhe-<br />

berschaft einer Straftat angelegt worden. Ebenfalls auf die Bedürfnisse der Justiz ausgerichtet waren Leu-<br />

m<strong>und</strong>sberichte oder Strafregisterauszüge, welche die moralische Einschätzung einer Person durch die<br />

Gemeinde oder frühere Verurteilungen dokumentierten. In vielen Fällen waren die psychiatrischen Sach-<br />

verständigen deshalb gezwungen, die vorhandenen Informationen mit andern Quellen zu vervollständi-<br />

gen.<br />

Die starke Orientierung an den Untersuchungsakten hatte aber auch zur Folge, dass die Sachverständigen<br />

bereits im Stadium der Anamnese implizite oder explizite Würdigungen aus den Akten übernahmen. So<br />

vermerkten die Sachverständigen im Gutachten über Johann G. unmittelbar nach der Wiedergabe der<br />

Aussagen der Eltern: «Es scheint aber weiterhin, dass sich G.’s Charakter nicht immer nur in harmlosen<br />

Sonderbarkeiten äusserte, wie aus den Aussagen der Eltern geschlossen werden könnte. Es scheint ihm<br />

vielmehr eine Neigung zu losen Streichen eigen zu sein in dem Masse, dass die öffentliche Meinung seines<br />

Wohnortes ihn aller schlimmen Streiche, die etwa vorkommen mochten, für fähig erklärte <strong>und</strong> ihn als<br />

Täter verdächtigte[...] Dass G. ein leichter <strong>und</strong> schwacher Charakter ist <strong>und</strong> feste moralische Gr<strong>und</strong>sätze<br />

bei ihm nur wenig entwickelt sind, scheint noch aus weiteren aktenmässigen Tatsachen hervorzugehen<br />

[...]» 815 Die Sachverständigen bewerteten damit bereits im referierenden Teil des Gutachtens die Aussagen<br />

der Eltern. Indem sie auf das Vorhandensein einer «Neigung zu losen Streichen» <strong>und</strong> eines «leichten <strong>und</strong><br />

schwachen» Charakters schlossen, spitzten sie zugleich die Zeugenaussagen im Hinblick auf eine psycho-<br />

pathologischen Deutung der Tat zu. Denn keiner der Zeugen hatte von sich aus Begriffe wie «Neigung»<br />

<strong>und</strong> «Charakter» verwendet. Die Sachverständigen übernahmen zudem nicht nur die moralisierende<br />

Sichtweise des Leum<strong>und</strong>sberichts, sondern liessen bewusst positive oder zumindest neutrale Aussagen der<br />

Gemeindebehörden weg. 816<br />

Die Psychiater selektierten die Untersuchungsakten gezielt nach medizinisch relevanten Informationen wie<br />

beispielsweise Zeugenaussagen über psychische Auffälligkeiten des Angeschuldigten, Angaben über vor-<br />

814 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johannes G., 9. Dezember 1897; vgl. pag. 39f., 85-87,<br />

90, 106-107,125f., 134 (Verhörprotokolle); 75, 79, 103f., 131-133 (Zeugenaussagen); 57f. (Leum<strong>und</strong>sbericht) der Akten.<br />

815 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johannes G., 9. Dezember 1897.<br />

816 So lauteten die letzten – im Gutachten verkürzt wiedergegebenen – Sätze des Leum<strong>und</strong>sberichts: «Über seine Aufführung im<br />

Berufe sind soweit keine Klagen bekannt, obwohl er seiner eingebildeten Haltung wegen der hiesigen Bewohnerschaft nicht<br />

besonders beliebt ist. Im Übrigen ist uns von ihm nichts Nachteiliges bekannt.»<br />

186

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!