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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Ausweitung des Schwachsinnskonzepts auf das Gebiet der Affekte <strong>und</strong> der Triebe hatte den parado-<br />

xen Effekt, dass die in den Gutachten oft postulierte Selbstevidenz des «Schwachsinns» relativiert wurde.<br />

In vielen Fällen, so etwa bei Jakob R., wo sich sogar die Neckereien von Kindern als Beleg für «Schwach-<br />

sinns» anführen liessen, gingen die Psychiater davon aus, dass sich ihre Einschätzung der intellektuellen<br />

Fähigkeiten der ExplorandInnen von derjenigen medizinischer Laien kaum oder lediglich graduell unter-<br />

schied. In Bezug auf das Affekt- <strong>und</strong> Triebleben liess sich eine solche Übereinstimmung allerdings kaum<br />

mehr postulieren, wie gerade der Fall von Friedrich S. verdeutlicht. Dieser wurde von seinen Arbeitgeber<br />

als «einen verlogenen Kerl, der nicht gern arbeitet <strong>und</strong> auch nicht besonders leistungsfähig sei», beschrieben.<br />

Der Vorsteher der Knabenerziehungsanstalt Landorf, in der Friedrich S. vor Jahren einige Zeit ver-<br />

bracht hatte, bezeichnete den Knaben als «geistig beschränkt, eigentlich schwachsinnig», dessen Betragen<br />

unbefriedigend gewesen sei. Schliesslich habe er als «bildungsunfähig» entlassen werden müssen. 957 Der<br />

Bauer <strong>und</strong> der Anstaltsleiter identifizierten die Mängel von Friedrich S. zwar in unterschiedlichen Berei-<br />

chen, sie waren sich aber einig, dass er nicht auf der üblichen Höhe der Leistungs- <strong>und</strong> Bildungsfähigkeit<br />

stand. Ebenfalls stellten sie Mängel in der Moralität seiner Lebensführung, respektive dem Verhalten fest.<br />

Im Gegensatz zum psychiatrischen Gutachten brachten sie solche Mängel aber nicht mit einer «Triebhaf-<br />

tigkeit» oder einer mangelnden Affektkontrolle in Zusammenhang. Vor allem in der Perspektive des Bau-<br />

ern dominierte eine moralisierende Perspektive auf das Fehlverhalten von Friedrich S. Psychiatrische Deu-<br />

tungsmuster von «Schwachsinn», die stark auf die Affekte fokussierten, unterschieden sich demnach nicht<br />

nur von der traditionellen Auffassung des «Schwachsinns», sondern oft auch von der Perspektive medizi-<br />

nischer Laien. Mit dem Fokus auf die Affekte brachte die <strong>Psychiatrie</strong> vielmehr ein spezifisches Deutungs-<br />

muster ins Spiel, das es erlaubte, auch bei potenziell vorhandener Strafeinsicht die Willensfreiheit <strong>und</strong><br />

damit die Zurechnungsfähigkeit «schwachsinniger» StraftäterInnen in Zweifel zu ziehen. Straftaten <strong>und</strong><br />

abweichendes Verhalten liessen sich dadurch unter Verweis auf eine vom Intellekt nur unzureichend be-<br />

herrschte «Triebhaftigkeit» deuten <strong>und</strong> als Abweichung von der Norm deklarieren.<br />

7.5.3 «Konstitutionelle Störungen»: «Psychopathische Persönlichkeiten» <strong>und</strong> die Grenzen der<br />

Normalität<br />

Gleich mehrere Entwicklungen der psychiatrischen Theoriebildung führten um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

dazu, dass sich in der forensisch-psychiatrischen Praxis eine wachsende Zahl von «Grenzfällen» ergab,<br />

deren strafrechtliche Verantwortlichkeit sich nur mit Schwierigkeiten bestimmen liess. Wie in Kapitel 6.4<br />

gezeigt worden ist, schlug sich diese Tendenz im Kanton Bern in einer Zunahme der als vermindert zu-<br />

rechnungsfähig begutachteten DelinquentInnen nieder. Selbst im Bereich der eigentlichen Geisteskrank-<br />

heiten begann sich mit der Annahme von «stillstehenden» oder «latenten» Psychosen die Grenze zwischen<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit zu verwischen. Im Gegenzug hatte die erwähnte Modifikation des Schwach-<br />

sinnskonzepts zur Folge, dass nebst der Prüfung der Intelligenz vermehrt das Affekt- <strong>und</strong> Triebleben von<br />

«Schwachsinnigen» zum Gegenstand der forensischen Begutachtung wurde. Beide Trends – die Auflösung<br />

klarer Grenzen zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit sowie der Fokus auf die affektiven <strong>und</strong> voluntativen<br />

psychischen Funktionen – lassen sich noch ausgeprägter im Zusammenhang mit jenen Deutungsmustern<br />

kriminellen Verhaltens feststellen, die im Anschlug an die Degenerationstheorie entstanden waren <strong>und</strong><br />

massgeblich zur Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende beitrugen.<br />

Bereits Glaser beschrieb 1887 vor dem Berner Hilfsverein für Geisteskranke eine «Klasse von Menschen, die<br />

[...] auf dem Grenzgebiete geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit stehen» mit den Worten: «Menschen, die<br />

957 PZM KG 5598, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich S., 7. Mai 1918, Aussagen der Arbeitgebers M. <strong>und</strong> des Verwalters<br />

von Landorf.<br />

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