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Psychiatrie und Strafjustiz

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würde dann noch das unbefriedigende Gefühl sich regen, dass noch eine grosse Lücke darin bestehe, dass<br />

der Gerechtigkeit nicht Genüge geschehen ist, weil die Schuld nicht gesühnt wurde.» 1369 Befürworter eines<br />

reinen Schuldstrafrechts wie Grünenfelder setzten einen stabilen <strong>und</strong> transzendentalen Beurteilungsrah-<br />

men voraus. Moralische Normen beanspruchten Geltung unabhängig von ihren konkreten gesellschaftli-<br />

chen Rahmenbedingungen. Wie im frühneuzeitlichen Strafparadigma wurde das Strafrecht dadurch onto-<br />

logisiert <strong>und</strong> funktionierte als kosmischer Schuldausgleich. Die staatlich-souveräne Strafmacht geriet zur<br />

Vollstreckerin der göttlichen Gerechtigkeit. Eine religiöse Deutung des Strafrechts lieferte in der Parla-<br />

mentsdebatte namentlich der parteilose Zürcher Nationalrat Hans Hoppeler (1879–1945). Für ihn ging<br />

der Sühnegedanke dort verloren, «wo der göttliche Gesetzgeber verschwindet». Strafe sei eine gerechte<br />

Reaktion der Obrigkeit auf eine schuldhafte <strong>und</strong> aus freiem Willen begangene Verletzung der göttlichen<br />

Ordnung. Hoppeler beschwor den «gefährlichen Boden», auf dem die heutige Gesellschaft stehe, welche<br />

keine festen Normen für Gut <strong>und</strong> Böse mehr besitze <strong>und</strong> «aus eigener Machtbefugnis» über Verbrecher<br />

richte. 1370<br />

Die Analyse der Strafrechtsdebatte verdeutlicht letztlich das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher<br />

Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsentwürfe. Die Befürworter des Entwurfs, die sich im Wesentlichen aus den politischen<br />

Lagern des Freisinns <strong>und</strong> der Sozialdemokratie rekrutierten 1371, sahen im neuen Strafrecht ein<br />

pragmatisches Instrument staatlicher Kriminal- <strong>und</strong> Sozialpolitik. Effizienz <strong>und</strong> Zweckmässigkeit stellten<br />

dabei die wichtigsten Kriterien sowohl bezüglich der Frage der Rechtseinheit, als auch hinsichtlich der<br />

Ausgestaltung der Sanktionen dar. Postulate der Medikalisierung <strong>und</strong> Pädagogisierung des Strafrechts<br />

fanden in dem Masse Zustimmung, als sie eine zweckmässige Kriminalitätsprophylaxe versprachen. Die<br />

Befürworter setzten die Verantwortlichkeit des Menschen nicht absolut, sondern waren in einem be-<br />

schränkten Ausmass bereit, soziale <strong>und</strong> medizinische Deutungsmuster kriminellen Verhaltens zuzulassen<br />

<strong>und</strong> dadurch die Zurechnungsfähigkeit fallweise zu relativieren. Für die Gegner des Entwurfs blieb das<br />

Recht zu Strafen dagegen ein Privileg der Obrigkeit. Die Strafgewalt war für sie ein unverzichtbares Attri-<br />

but kantonaler Souveränität, das im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung wurzelte. Medizinische <strong>und</strong><br />

soziale Deutungsmuster kriminellen Verhaltens bedeuteten für ein religiös motiviertes Schuldstrafrecht<br />

eine potenzielle Gefahr, da sie das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit auszuhöhlen drohten. Der<br />

Staat hatte deshalb Strafen nicht nach dem Kriterium der Zweckmässigkeit, sondern nach dem Prinzip der<br />

gerechten Vergeltung für eine willentlich begangene Übeltat zu verhängen. Er kam damit seiner eigentli-<br />

chen Bestimmung, der Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung, nach.<br />

Umstrittene Grenzen der Verantwortlichkeit – die Debatte um die fahrlässige Trunkenheit<br />

Die konservative Kritik an der Strafrechtsreform beschränkte sich im Wesentlichen auf die Eintretensde-<br />

batten in beiden Räten. In der Detailberatung wurden weder die Definition der Zurechnungsfähigkeit,<br />

noch die Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen Gegenstand grösserer (parteilpolitischer) Ausei-<br />

nandersetzungen. So wurde etwa in der Detailberatung die in den Eintretensdebatten geäusserte Kritik an<br />

der vom Gesetz vorgesehenen Strafvollzugs- <strong>und</strong> Anstaltsreform nicht mehr aufgegriffen. 1372 Eine Aus-<br />

1369 Sten. Bull. NR, 1928, 111.<br />

1370 Sten. Bull. NR, 1928, 126 f.<br />

1371 Das StGB wurde schliesslich, wenn auch mit einigen Vorbehalten, ebenfalls von der Bauern- Gewerbe- <strong>und</strong> Bürgerpartei<br />

(BGB) unterstützt. Die Westschweizer Liberalen lehnten die Vorlage aus föderalistischen Überlegungen hingegen ab. Die Sozialdemokraten<br />

betrachtete, trotz ihrer schlechten Erfahrung mit den Bemühungen um eine Revision des B<strong>und</strong>esstrafrechts («Lex<br />

Häberlin»), weniger den Entwurf des B<strong>und</strong>esrats, als vielmehr die verschiedenen Änderungsanträge aus konservativer Sicht mit<br />

Argwohn, stimmte dem Strafgesetzbuch jedoch schliesslich deutlich zu. Vgl. die Schlussabstimmungen in den Räten: Sten. Bull.<br />

SR, 1937, 404-408; Sten. Bull. NR, 1937, 809-812.<br />

1372 Diese Kritik war anlässlich der Debatte im Nationalrat vor allem durch den Waadtländer Liberalen Alois de Meuron vorgebracht<br />

worden; vgl. Sten. Bull. NR, 1928, 31.<br />

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