13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

nach einer Monopolisierung der Begutachtung zweifelhafter Gemütszustände, die in ihren Augen eine<br />

freie Willensbestimmung ausschlossen, neuen Nachdruck zu verleihen. Solche Kompetenzansprüche wurden<br />

von der nach 1800 entstehenden «Seelenheilk<strong>und</strong>e» aufgegriffen, die durch die Entwicklung neuer Deutungs-<br />

muster ein neuartiges Potenzial für die Medikalisierung kriminellen Verhaltens schuf, <strong>und</strong> damit zuneh-<br />

mend mit der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> in Konflikt geriet.<br />

Vom frühneuzeitlichen zum bürgerlichen Strafparadigma<br />

Die Aufklärungsbewegung stellte nicht nur das herkömmliche Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsverständnis, son-<br />

dern auch die Legitimität der obrigkeitlichen Strafmacht radikal in Frage. Vor allem der 1764 erschienene<br />

Trattato dei delitti e delle pene von Cesare Beccaria (1738–1794) löste in der gebildeten Öffentlichkeit Europas<br />

eine hitzige Debatte über Sinn <strong>und</strong> Zweck des Strafens aus. Indem der aufgeklärte Strafdiskurs die Legiti-<br />

mität der frühneuzeitlichen Strafpraxis in Frage stellte, legte er gleichzeitig die Gr<strong>und</strong>lagen für ein neues<br />

Strafparadigma. Noch um die Mitte des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte der deutsche Jurist Benedikt Carpzov<br />

(1595-1666) in der Strafe in erster Linie eine Vergeltungsmassnahme gesehen, mit der die durch das<br />

Verbrechen verletzte göttliche Ordnung wiederhergestellt werden sollte. Es sei, so Carpzov, die Pflicht der<br />

Obrigkeit, begangene Verbrechen hart zu bestrafen, um den Zorn Gottes vom Gemeinwesen abzuwen-<br />

den. 123 Die Grausamkeit frühneuzeitlicher Strafrituale sollte den obrigkeitlichen Strafanspruch unterstrei-<br />

chen <strong>und</strong> zugleich der exemplarischen Abschreckung dienen. 124 Der theologisch f<strong>und</strong>ierten Vergeltungs-<br />

strafe setzten die Aufklärer ein säkularisiertes <strong>und</strong> auf den gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtetes Straf-<br />

recht gegenüber, das seine Legitimation durch den bürgerlichen Gesellschaftsvertrag erhielt. Sie entwickelten<br />

dabei die Tradition des Naturrechts des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts weiter. Den Auftakt zum aufklärerischen<br />

Strafdiskurs markierte 1748 Charles de Montesquieu (1689–1755) mit seinem L'esprit des lois. Für Montes-<br />

quieu beruhte eine rechtmässige Justiz auf dem Prinzip der Gesetzmässigkeit <strong>und</strong> der Gewaltenteilung.<br />

Richten nach Gewohnheit, freiem Ermessen <strong>und</strong> politischer Opportunität, wie es in der frühneuzeitlichen<br />

Strafpraxis Usanz war, entsprach seinen Ansprüchen an ein zeitgemässes Strafrechts nicht mehr. Um die<br />

Freiheits- <strong>und</strong> Persönlichkeitsrechte der Bürger zu gewährleisten, war es unabdingbar, dass verbotene<br />

Handlungen <strong>und</strong> die darauf angedrohten Strafen schriftlich fixiert waren. Gleichzeitig begründete Mon-<br />

tesquieu die Strafwürdigkeit einer Handlung nicht mehr in der Verletzung der göttlichen Ordnung, son-<br />

dern in deren «Sozialschädlichkeit». Die vom Staat zu verhängende Strafe hatte proportional der Schwere<br />

des begangenen Verbrechens zu entsprechen. 125<br />

In den 1760er Jahren verstärkte sich die aufklärerische Kritik an der bestehenden Strafpraxis zusehends.<br />

Weit beachtete Autoren wie Beccaria, Voltaire (1694–1778) oder Karl Ferdinand Hommel (1722–1781)<br />

bezichtigten die obrigkeitliche Strafpraxis der Barbarei, Ineffizienz <strong>und</strong> Ungerechtigkeit. Ihre Kritik richte-<br />

te sich gegen die Grausamkeit <strong>und</strong> Unzweckmässigkeit eines «Theater des Schreckens», das nicht zwischen<br />

schweren <strong>und</strong> geringfügigen Delikten unterschied <strong>und</strong> bei den Zuschauern oft mehr Mitleid als Verach-<br />

tung für die Gemarterten hervorrief. An Montesquieus Willkürvorwurf anknüpfend, erschien den Aufklä-<br />

rern ein Strafrecht, das je nach der ständischen Zugehörigkeit der Angeschuldigten unterschiedlich urteilte<br />

<strong>und</strong> den Richtern einen breiten Ermessensspielraum zugestand, als Inbegriff eines obrigkeitlichen Despo-<br />

tismus, der sich über die natürliche Gleichheit der Menschen hinwegsetzte. Seit den 1780er Jahren akzen-<br />

tuierte der aufklärerische Strafdiskurs zusehend seine herrschaftskritischen Züge <strong>und</strong> wandelte sich defini-<br />

123 Martschukat, 2000, 12-16; Schmidt, 1995, 153-157.<br />

124 Dülmen, 1985.<br />

125 Ludi, 1999, 46-55.<br />

38

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!