13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ewahren, politische Rücksichten auf die laufende Strafrechtsreform <strong>und</strong> – zumindest im Fall von Ris –<br />

die Erfahrungen mit dem gescheiterten Projekt in der Rheinau. Dazu kam die Uneinigkeit der Disziplin in<br />

der Verwahrungsfrage. Zudem eröffnete sich der <strong>Psychiatrie</strong> mit der Strategie der Demedikalisierung ein<br />

neuer Weg, um missliebige InsassInnen loszuwerden <strong>und</strong> den Problemdruck auf die Irrenanstalten zu<br />

verringern. Künftig sollte ein Teil der DelinquentInnen, die von den psychiatrischen Sachverständigen als<br />

«abnorm» begutachtet <strong>und</strong> in der Regel für vermindert zurechnungsfähig erklärt wurden, in den Straf- <strong>und</strong><br />

Massnahmenvollzug zurückversetzt werden. Diese vor 1914 am Horizont auftauchende Lösung, hatte, wie<br />

das Gutachten Ris zeigt, gleich mehrere Vorteile: Erstens blieb die juristisch-psychiatrische Zusammenar-<br />

beit im Bereich der Begutachtung unangetastet, zweitens wurden die psychiatrischen Anstalten von einer<br />

unangenehmen Aufgabe entlastet <strong>und</strong> drittens liess sich der politische Handlungsbedarf bei der Umset-<br />

zung der Strafrechtsreform minimieren.<br />

Tendenzen in Strafvollzug <strong>und</strong> Anstaltspsychiatrie der Zwischenkriegszeit<br />

Bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verschwand die Frage der Versorgung «verbrecherischer<br />

Geisteskranker» in den Schubladen. Die parlamentarische Beratung des Strafgesetzbuchs beschäftigte sich<br />

mit der Problematik nur im Zusammenhang mit der erwähnten fakultativen Ausschüttung von Subventi-<br />

onen durch den B<strong>und</strong>. Nichtsdestotrotz kam es in der Zwischenkriegszeit sowohl im Bereich des Straf-<br />

vollzugs, als auch im Bereich der Anstaltspsychiatrie zu Entwicklungen, welche die weiteren Diskussionen<br />

um die Versorgung geistesgestörter Delinquenten beeinflussen sollten.<br />

In der Zwischenkriegszeit nahmen mehrere Kantone sichernde Massnahmen in ihre Strafgesetze auf. Sie<br />

reagierten dadurch auf die Verzögerung der Strafrechtsreform auf B<strong>und</strong>esebene. Diese kantonalen Geset-<br />

ze zeigen, dass inzwischen ein breit abgestützter Konsens über die Anwendung sichernder Massnahmen<br />

bestand. Ein Berner Jurist wies deshalb 1945 zu Recht darauf hin, dass der «Einbruch» in das «System der<br />

völligen Trennung des Strafrechts vom Massnahmenrecht» bereits vor dem Inkrafttreten des Strafgesetz-<br />

buchs erfolgt sei. 1271 Die Verwahrungsmassnahmen der Kantone richteten sich in erster Linie gegen «Ge-<br />

wohnheitsverbrecher». Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass es zwischen dieser Kategorie <strong>und</strong> der<br />

Gruppe der geistesgestörten StraftäterInnen zu verschiedenen Überschneidungen kam. Die kantonalen<br />

Verwahrungsmassnahmen eröffneten dadurch zugleich neue Perspektiven für einen demedikalisierten<br />

Massnahmenvollzug an «abnormen» DelinquentInnen.<br />

Den Anfang machte der Kanton St. Gallen mit dem «Gesetz betreffend die Einweisung von Gewohn-<br />

heitsverbrechern <strong>und</strong> Zwangsversorgten in die Strafanstalt» vom 22. Dezember 1924. Demnach sollte auf<br />

unbestimmte Zeit in eine Strafanstalt eingewiesen werden können, «wer wegen Verbrechen oder Vergehen<br />

schon mehrere Freiheitsstrafen erstanden hat, einen Hang zu Verbrechen oder Vergehen, zur Liederlich-<br />

keit oder Arbeitsscheu bek<strong>und</strong>et <strong>und</strong> wieder ein mit Freiheitsstrafe bedrohtes Verbrechen oder Vergehen<br />

verübt hat». 1272 Für den Fall, dass eine entsprechende Anstalt zur Verfügung stand, sah das Gesetz die<br />

Einweisung in eine «besondere Verwahrungsanstalt» vor. Sonst habe die Einweisung in eine reguläre<br />

Strafanstalt zu erfolgen. Mit der Einführung der unbestimmten Dauer der Massnahme <strong>und</strong> der im Gegen-<br />

satz zum Strafgesetzentwurf offen gelassenen Differenzierung der Vollzugsanstalt markiert dieses Gesetz<br />

eine pointiert repressive Kriminalpolitik. 1273 Nicht so weit gingen die analogen Gesetze der Kantone Zü-<br />

rich <strong>und</strong> Thurgau von 1925, respektive 1927; sie verzichteten auf die unbestimmte Dauer der Massnahme.<br />

1271 Waiblinger, 1945, 5.<br />

1272 Kanton St. Gallen. Gesetzessammlung, N.F., Band 14, 78-82. Der Wortlaut dieser Bestimmung lehnte sich dabei eng an die entsprechende<br />

Formulierung im b<strong>und</strong>esrätlichen Strafgesetzentwurf von 1918 an.<br />

1273 Vgl. die Kritik von Hafter, 1924.<br />

315

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!