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Psychiatrie und Strafjustiz

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<strong>und</strong> Empfehlung der psychiatrischen Sachverständigen von der Polizeidirektion verschiedenen Anstaltsty-<br />

pen zugewiesen. So wurden über einen Drittel der aufgr<strong>und</strong> Artikel 14 verwahrten StraftäterInnen in Ar-<br />

beitserziehungsanstalten <strong>und</strong> Verwahrungsanstalten für «Gewohnheitsverbrecher» untergebracht – Anstal-<br />

ten, in denen zwar die medizinische Versorgung sichergestellt war, die jedoch nicht unter ärztlicher Lei-<br />

tung standen. De facto lief die Berner Vollzugspraxis somit auf eine teilweise Demedikalisierung des<br />

Massnahmenvollzugs hinaus.<br />

Das Berner Modell erwies sich nicht nur bezüglich der Anstaltseinweisung als flexibel, sondern es erlaubte<br />

auch die zweckmässige Verlegung von Häftlingen während des Vollzugs. Dabei stützte sich die kantonale<br />

Polizeidirektion auf Artikel 17 des Strafgesetzbuchs, der den Vollzug <strong>und</strong> die Beendigung sichernder<br />

Massnahmen durch die kantonalen Verwaltungsbehörden vorsah. Aufgr<strong>und</strong> dieser Bestimmung wurden<br />

beispielsweise im Stichjahr 1945 25 Personen innerhalb des Berner Massnahmenvollzugs verlegt. Dabei<br />

gaben die psychiatrischen Anstalten sechs Personen an andere Anstalten ab <strong>und</strong> hatten im Gegenzug von<br />

diesen drei Personen aufzunehmen. 1464 Wie diese Verlegungspraxis konkret aussehen konnte, zeigt das<br />

Beispiel von Hans S., der 1944 wegen zweifacher Brandstiftung angeklagt war. Im Juni 1945 hob die An-<br />

klagekammer das Verfahren gegen Hans S. wegen Unzurechnungsfähigkeit auf <strong>und</strong> verfügte die Verwahrung<br />

aufgr<strong>und</strong> Artikel 14. Von der Polizeidirektion wurde Hans S. zunächst in die Waldau eingewiesen,<br />

wo er im Laufe des Strafverfahrens begutachtet worden war. Nachdem die Ärzte der Waldau zum Schluss<br />

gekommen waren, dass ein Aufenthalt in der Heilanstalt im Fall von Hans S. nicht nötig sei, dass dieser<br />

aber weiterhin als «gemeingefährlich» anzusehen sei, verlegte die Polizeidirektion Hans S. in die Arbeitser-<br />

ziehungsanstalt Witzwil. Nach einiger Zeit befürworteten die Anstaltsleitung von Witzwil <strong>und</strong> der ambu-<br />

lant konsultierte Psychiater eine bedingte Entlassung von Hans S., obwohl das Strafgesetzbuch eine be-<br />

dingte Entlassung aus dem Massnahmenvollzug nicht vorsah. Die Polizeidirektion beauftragte daraufhin<br />

die Schutzaufsicht, für Hans S. eine Stelle zu suchen. Nach seiner bedingten Freilassung geriet dieser<br />

jedoch erneut in Verdacht, eine Brandstiftung begangen zu haben. Wiederum wurde er in die Waldau<br />

eingewiesen <strong>und</strong> kam kurze Zeit später nach Witzwil zurück. Da sich der Verdacht gegen ihn jedoch nicht<br />

erhärtete, gelang es Hans S., entlassen zu werden <strong>und</strong> eine neue Stelle zu finden. 1465<br />

Der Fall von S. verdeutlich beispielhaft das Funktionieren des «flexiblen Berner Modells». Er zeigt das<br />

eingespielte Netzwerk aus kantonalen Gerichts-, Verwaltungs- <strong>und</strong> Vollzugsbehörden. In diesem Netz-<br />

werk nahm die <strong>Psychiatrie</strong> eine Drehscheibenfunktion wahr, versorgte sie doch die Gerichts- <strong>und</strong> Verwal-<br />

tungsbehörden nicht nur mit Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen in Form von Sachverständigengutachten, sondern<br />

funktionierte zugleich als Selektionsinstanz im Massnahmenvollzug, die über die Verlegung von Straftäte-<br />

rInnen aufgr<strong>und</strong> medizinischer Kriterien wie Heilbarkeit oder Pflegebedürftigkeit befand. Für die psychi-<br />

atrischen Institutionen bedeutete das Berner Vollzugsmodell eine beträchtliche Entlastung, da ein nicht<br />

unbeträchtlicher Teil der zu verwahrenden unzurechnungsfähigen oder vermindert zurechnungsfähigen<br />

DelinquentInnen in andere Anstalten abgeschoben werden konnten. Unter diesen Umständen erstaunt es<br />

nicht, dass die Berner Psychiater zu den überzeugtesten Befürwortern dieses Modells gehörten. So erklärte<br />

der Direktor der Waldau, Jakob Klaesi, im Mai 1943 anlässlich einer Konferenz auf der kantonalen Poli-<br />

zeidirektion, dass die Verhältnisse im Kanton Bern in dieser Hinsicht die «denkbar besten» seien. Die<br />

Errichtung besonderer Anstalten für den Massnahmenvollzug sei daher keineswegs notwendig. 1466<br />

1464 Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1945, 27.<br />

1465 Kellerhals, 1948, 297-300 (fiktiver Vorname).<br />

1466 Kellerhals, 1948; 295; Bersot, 1943, 187.<br />

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