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Psychiatrie und Strafjustiz

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erscheinende Prognosen über die künftige «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen angewiesen wa-<br />

ren. Psychiatrische Deutungskonstruktionen eröffneten dadurch Perspektiven für eine auf den Einzelfall<br />

bezogene Kriminalitätsprophylaxe.<br />

8.5 Fazit: Sichernde Massnahmen als Form der arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung<br />

Zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 erfuhr die Praxis der sichernden Massnahmen im Kanton Bern eine beträchtliche<br />

Ausweitung. Beantragten die Justizbehörden 1895 in zwölf Fällen sichernde Massnahmen aufgr<strong>und</strong><br />

Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs, so betrug deren Zahl ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert später mehr als das<br />

Doppelte. Die Verhängung sichernder Massnahmen stellte gleichsam die letzte Stufe jener Selektionspro-<br />

zesse dar, die auf eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens hinausliefen. Durch sichernde Massnahmen<br />

wurden StraftäterInnen einem institutionellen Zugriff durch das medizinisch-psychiatrische Bezugssystem<br />

unterworfen, der sich qualitativ deutlich von den herkömmlichen Instrumenten strafrechtlicher Repressi-<br />

on unterschied. Die Anordnung sichernder Massnahmen folgte einer Begründungslogik, die sich im Ge-<br />

gensatz zu regulären Strafen weniger an begangenen Straftaten als an der potenziellen «Gemeingefährlich-<br />

keit» der StraftäterInnen orientierte. Der Bewertungsmassstab verschob sich damit von der Tat auf die<br />

TäterInnen. Sicherung <strong>und</strong> allenfalls Versorgung oder Behandlung waren die erklärten Zwecksetzungen<br />

von administrativrechtlichen Verwahrungsbestimmungen, wie sie Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs<br />

vorsah. Schlüsselbegriff dieses Massnahmendispositivs war die «Gemeingefährlichkeit» von StraftäterIn-<br />

nen, deren Definition weitgehend vom Ermessen der zuständigen Behörden abhing. Im Unterschied zu<br />

analogen Regelungen im Bereich des Irren- <strong>und</strong> Armenpolizeirechts blieb die Verhängung sichernder<br />

Massnahmen aufgr<strong>und</strong> von Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs allerdings eng an die Beurteilung der<br />

Zurechnungsfähigkeit durch psychiatrischen Sachverständige <strong>und</strong> das Vorhandensein eines Tatbestands<br />

geb<strong>und</strong>en. Bis 1908 konnten sichernde Massnahmen nur gegen DelinquentInnen verhängt werden, die<br />

wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wurden. Die sichernden Massnahmen ersetzten sozusagen<br />

nicht ausgesprochene Strafen. Mit der Ausweitung der Massnahmenpraxis auf vermindert Zurechnungs-<br />

fähige konnten Strafen <strong>und</strong> Massnahmen erstmals nebeneinander verhängt werde. Wie sich ein Berner<br />

Arzt ausdrückte, wurden «Bestrafung <strong>und</strong> Nachbehandlung» dadurch kumuliert, wobei allerdings im Un-<br />

tersuchungszeitraum bei der «Nachbehandlung» der Sicherungsaspekt klar im Vordergr<strong>und</strong> stand. Indirekt<br />

verwirklichte die Berner Regierung damit eine Forderung der internationalen Strafrechtsbewegung nach<br />

einer «anderen» Bestrafung vermindert zurechnungsfähiger DelinquentInnen. Indem sichernde Massnah-<br />

men im Kanton Bern an eine (teilweise) fehlende Zurechnungsfähigkeit geknüpft blieben, beschränkten<br />

sie sich auf einen vergleichsweise kleinen Kreis von DelinquentInnen. Lediglich «abnorme» DelinquentIn-<br />

nen sahen sich dem institutionellen Zugriff durch sichernde Massnahmen ausgesetzt. So war es denn kein<br />

Zufall, dass die Ausweitung der Massnahmenpraxis im Kanton Bern Hand in Hand mit der festgestellten<br />

Intensivierung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis ging. Indem die Massnahmenpraxis auf<br />

die Unterscheidung zwischen «normalem» <strong>und</strong> «abnormem» kriminellem Verhalten aufbaute, wie sie aus<br />

der Anwendung des Zurechnungsfähigkeitsprinzips resultierte, gab sie dem forensisch-psychiatrischen<br />

Normalitätsdispositiv eine institutionelle Komponente. «Zuchthaus» oder «Irrenanstalt» lauteten dann die<br />

Alternativen.<br />

Durch die vermehrte Inanspruchnahme der gesetzlichen Verwahrungsbestimmung durch die Berner Jus-<br />

tizbehörden weitete sich der Aufgabenbereich der psychiatrischen Sachverständigen zusehends von der<br />

Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf den Bereich des Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs<br />

aus. Die Berner Psychiater sahen sich nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende immer häufiger vor die Aufgabe ge-<br />

stellt, nicht nur die strafrechtliche Verantwortlichkeit, sondern auch die «Gemeingefährlichkeit» von<br />

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