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Psychiatrie und Strafjustiz

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11 Demedikalisierungs- <strong>und</strong> Ausdifferenzierungstendenzen: Die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> die<br />

Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs<br />

Die Abstimmung vom 3. Juli 1938 ebnete den Weg zur Inkraftsetzung des schweizerischen Strafgesetz-<br />

buchs am 1. Januar 1942. Damit rückten Fragen des konkreten Gesetzesvollzugs endgültig in den Vorder-<br />

gr<strong>und</strong> der juristisch-psychiatrischen Diskussionen. Die Umsetzung des neuen Strafgesetzbuchs bedeutete<br />

nicht nur für die Justiz- <strong>und</strong> Strafvollzugsbehörden, sondern auch für die <strong>Psychiatrie</strong> beträchtliche Heraus-<br />

forderungen. Unmittelbar nach dessen Inkrafttreten bekamen die Irrenanstalten die Auswirkungen des<br />

Gesetzes zu spüren. Sowohl die abzugebenden Gutachten, als auch die Zahl der psychiatrisch zu verwah-<br />

renden <strong>und</strong> zu versorgenden StraftäterInnen nahmen deutlich zu. Die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> war auf diese<br />

institutionellen Herausforderungen nur ungenügend vorbereitet. Bereits in der Einleitung zu dieser Unter-<br />

suchung ist auf die Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong> vom Juni 1944 hingewiesen worden,<br />

auf der der Präsident der Standesorganisation, der Berner Psychiater Max Müller, von «unhaltbaren Zu-<br />

ständen» <strong>und</strong> «akutem Notstand» in den Anstalten sprach. Müller zeigte sich allerdings zugleich begeistert<br />

von der «Erweiterung der psychologischen <strong>und</strong> psychiatrischen Mitarbeit, die uns von juristischer Seite im<br />

Rahmen des StrG angeboten wird». 1450 Müllers Votum brachte die ambivalente Haltung seiner Fachkollegen<br />

auf den Punkt. Einerseits begrüssten die Schweizer Psychiater das neue Strafgesetzbuch, für dessen<br />

Entstehung sie sich jahrzehntelang engagiert hatten, ausdrücklich, andererseits sahen sie sich den unmit-<br />

telbaren Auswirkungen des Gesetzes kaum gewachsen. Müllers Votum verdeutlicht zugleich, dass der<br />

Vollzug des neuen Strafrechts innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong> Lern- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse auslöste, die ihrer-<br />

seits auf die Beziehungen zwischen den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> zurückwirken sollten.<br />

Das schweizerische Strafgesetzbuch stellte die juristisch-psychiatrische Zusammenarbeit auf eine neue<br />

Gr<strong>und</strong>lage. 1451 So verpflichtete Artikel 13 des Strafgesetzbuchs die Justizbehörden erstmals landesweit,<br />

Zweifel an der Zurechungsfähigkeit von angeschuldigten Personen durch Sachverständige abklären zu<br />

lassen. Das Strafgesetzbuch verwirklichte ebenfalls das von den Strafrechtsreformern <strong>und</strong> Psychiatern<br />

gemeinsam konzipierte Massnahmenrecht. Was die Gruppe der «abnormen» DelinquentInnen anbelangte,<br />

erlaubte Artikel 14 die Verwahrung unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähiger Straftäter<br />

in «Heil- oder Pflegeanstalten», sofern diese die «öffentliche Sicherheit oder Ordnung» gefährdeten. Arti-<br />

kel 15 sah dagegen die Einweisung von unzurechnungsfähigen <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähigen Straf-<br />

täterInnen in «Heil- oder Pflegeanstalten» zum Zweck der «Behandlung oder Versorgung» vor. Des Weite-<br />

ren ermöglichte das neue Gesetz in Artikel 42 die Verwahrung von «Gewohnheitsverbrechern» sowie<br />

Einweisungen in Arbeitserziehungs- <strong>und</strong> Trinkerheilanstalten (Artikel 43 <strong>und</strong> 44). 1452 Diese Bestimmun-<br />

gen determinierten die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden <strong>und</strong> der <strong>Psychiatrie</strong> allerdings kei-<br />

neswegs vollständig. Indem der Vollzug des Gesetzes den Kantonen überlassen blieb, eröffnete dieses<br />

einen Raum für (lokale) Aushandlungsprozesse, die den beteiligten Akteuren beträchtliche Handlungs-<br />

spielräume zugestanden.<br />

Gegenstand dieses Kapitels sind solche Lern-, Anpassungs- <strong>und</strong> Aushandlungsprozesse, die sich im An-<br />

schluss an die Einführung des Strafgesetzbuchs im Spannungsfeld von Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> entspannten.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> stehen dabei zwei Fragen. Zum einen geht es darum, die Reaktionsmuster der psychiatri-<br />

schen scientific community auf die Auswirkungen der neuen Rechtslage zu untersuchten. Dabei wird an die in<br />

Kapitel 9 unternommene Analyse angeknüpft, zeigt sich doch, dass die im Rahmen der verschiedenen<br />

1450 SLB V CH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1944, 4; Müller, 1982, 306-308.<br />

1451 Zu den zitierten Gesetzesbestimmungen siehe Anhang 1.<br />

1452 BS II, 205f, 214-217. Vgl. die einschlägigen Gesetzeskommentare zu diesen Bestimmungen: Logoz, 1939, 37-55; Thormann/Overbeck,<br />

1940, 66-86; Hafter, 1946, 109-114, 171-178, 383-410.<br />

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