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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gehrys Argumentation war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst verlangte er, dass sich die<br />

forensische Beurteilung des «moralischen Schwachsinns» den Gegebenheiten des Massnahmenvollzugs<br />

unterzuordnen hätte. Im Vergleich zu den früheren Arbeiten Bleulers <strong>und</strong> Maiers vollzog seine Argumen-<br />

tation folglich eine deutliche Kehrwende. Nicht mehr ein wissenschaftlicher Krankheitsbegriff, sondern<br />

praktische Überlegungen sollten den Ausschlag für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit geben. Geh-<br />

ry nahm damit Wilmanns spätere Argumentation sozusagen vorweg. Als einer der Ersten erkannte er, dass<br />

sich durch Anpassung der Begutachtungspraxis die Zahl der in den Irrenanstalten zu verwahrenden De-<br />

linquentInnen steuern liess. Das Fehlen spezialisierter Verwahrungsinstitutionen liess sich in dieser Per-<br />

spektive durch eine rigidere Exkulpationspraxis kompensieren. Dass seine Haltung auf Widerstand stossen<br />

musste, war sich Gehry allerdings bewusst, als er, diesbezügliche Kritik antizipierend, meinte: «Wer das<br />

Bedürfnis hat, sein wissenschaftliches Gewissen zu beruhigen, kann sich sagen, jeder Rechtsbrecher ist<br />

geistig abnorm; denn sonst vermöchte er die bürgerlichen <strong>und</strong> moralischen Gesetze zu halten; für diese<br />

besondere Art geistiger Abnormität haben wir besondere Anstalten, welche für sie zugeschnitten sind,<br />

nämlich die Strafanstalten.» 1314 Damit machte Gehry klar, dass er nicht im Geringsten an der Validität<br />

psychiatrischer Deutungsmuster wie dem Psychopathiekonzept zweifelte. Er richtete seine Schlussfolge-<br />

rungen in Bezug auf die Zurechnungsfähigkeit «moralisch Schwachsinniger» lediglich nach den prakti-<br />

schen Anforderungen der Anstaltspsychiatrie aus. Ebenfalls bemerkenswert war die Selbstverständlichkeit,<br />

mit der Gehry annahm, es gehöre zur Aufgabe der psychiatrischen Sachverständigen, ein explizites Urteil<br />

über die Zurechnungsfähigkeit abzugeben. Er konterkarierte dadurch gleichsam die Bestrebungen der<br />

Schweizer Psychiater im Rahmen der Strafrechtsdebatte, Sachverständigenaussagen auf rein medizinische<br />

Belange zu beschränken. Konsequenterweise verzichtete Gehry auf eine Diskussion, ob dem «moralischen<br />

Schwachsinn» aus medizinischer Sicht Krankheitswert zuzubilligen war. Was in seinen Augen allein zählte,<br />

war dessen rechtliche Beurteilung. Gehrys Argumentation verwies somit auf den Handlungsspielraum, der<br />

aus der Trennung von medizinischer <strong>und</strong> rechtlicher Beurteilung von Geisteszuständen resultierte <strong>und</strong> auf<br />

den im Februar 1913 auch Maier hingewiesen hatte. 1315 Gehry wie Maier waren sich im Klaren, dass eine<br />

explizite Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit den Sachverständigen die Möglichkeit eröffnete, medizini-<br />

sche Aussagen in rechtliche Bef<strong>und</strong>e zu transformieren. In ihren Augen erhöhte sich dadurch die Chance,<br />

für standespolitische Anliegen wie die Entlastung der Irrenanstalten von «moralisch Schwachsinnigen<br />

seitens der Justiz Anschlussfähigkeit zu gewinnen.<br />

Gehrys Artikel löste unter den Zürcher Psychiater eine lebhafte Kontroverse aus. In einer Replik brachte<br />

Bleuler Gehrys Argumentation nochmals auf den Punkt: «Wer in der Irrenanstalt nicht zu brauchen ist,<br />

gehört ins Zuchthaus, deshalb muss er als zurechnungsfähig erklärt werden». 1316 Bleuler pflichtete der<br />

Berücksichtigung praktischer Momente bei der Beurteilung des «moralischen Schwachsinns» zwar gr<strong>und</strong>-<br />

sätzlich bei. Er bezweifelte indes, ob das Regime der Strafanstalten dem Charakter ausgesprochener<br />

«Grenzfälle» zuträglicher als jenes der Irrenanstalten sei. Nur die Irrenanstalten seien fähig, so Bleuler, die<br />

notwendige Individualisierung der Behandlung zu garantieren. Maier griff Gehrys Position dagegen im<br />

Rahmen der Psychiatrisch-juristische Vereinigung scharf an. Im Gegensatz zu Gehry wollte Maier an der bishe-<br />

rigen Beurteilung des «moralischen Schwachsinns» festhalten: «Eine prinzipielle Ausschliessung der mora-<br />

lisch Defekten aus dem praktischen Begriff der Geisteskrankheit mit allen Konsequenzen davon, wie sie<br />

Gehry empfiehlt, wäre meiner Überzeugung nach reaktionär <strong>und</strong> für die Allgemeinheit schädlich; deshalb<br />

1314 Gehry, 1913, 1391.<br />

1315 Maier, 1913, 293; Kp. 4.3.1.<br />

1316 Bleuler, 1914, 202f.<br />

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