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Psychiatrie und Strafjustiz

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nachträglichen Urteilsbegründung lehnte die Kriminalkammer mit seltener Vehemenz eine Medikalisie-<br />

rung des Verbrechens ab <strong>und</strong> hob stattdessen den Schutz der Gesellschaft durch die harte Strafe hervor:<br />

«Point n’est besoin, criminellement parlant, de toujours établir un mobile bien déterminé, bien délimité,<br />

pour arriver à comprendre de pareils crimes. Toutes les théories analytiques ou synthétiques qui ont été<br />

développées lors des débats n’empêchent pas que à un moment donné un individu jusqu’alors considéré<br />

comme parfaitement éduqué et bien équilibré, n’en arrive à l’homicide ou au meurtre, sans cause ni raison,<br />

pour la simple mais horrible satisfaction de verser le sang humain. Devant ce problème psychologique la<br />

raison peut s’effarer un instant, en se demandant s’il s’agit dans l’espèce de vieux restes d’atavisme provenant<br />

du souvenir de massacre préhistorique ou d’un remous de passions viles et misérables, qui par des<br />

actes épouvantables, cherche à satisfaire un crime dénaturé un penchant criminel. Le fait du crime reste<br />

explicable ou non! Ce qui peut être l’objet de savantes déductions scientifiques ne doit aucunement trou-<br />

bler la conscience du tribunal appelé à juger dans des cas pareils, car il doit mettre au dessus de tous<br />

problèmes la sécurité de la vie humaine, celle de la société, menacées au plus haut degré par des individus<br />

tels que l’accusé C., dont la criminalité éclate bien haut.» Die Kriminalkammer nahm mit dem Verweis auf<br />

den «Atavismus»-Theorie zwar Versatzstücke des kriminologischen Diskurses der Jahrh<strong>und</strong>ertwende auf,<br />

ging aber bewusst nicht auf die entsprechenden Deutungsangebote ein. Getreu dem Spruch der Geschwo-<br />

renen verurteilte sie Emile C. zu zwölf Jahren Zuchthaus. 1085 Ebenfalls zu einer Missachtung der Exper-<br />

tenmeinung kam es im Fall von Karl H., der 1903 wegen Brandstiftung angeklagt war. In diesem Fall er-<br />

klärte der Direktor von Münsingen vor Gericht, dass Karl H. bei der Tat seiner Willensfreiheit beraubt<br />

gewesen sei. Die Geschworenen folgten dagegen dem Staatsanwalt, der auf vollständige Zurechnungsfä-<br />

higkeit plädiert hatte. 1086<br />

In andern Fällen lehnten die Geschworenen zwar eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit gemäss<br />

den psychiatrischen Gutachten ab, billigten den Angeklagten aber dennoch mildernde Umstände zu. 1087 So<br />

hiess es im Urteil gegen Gottwald L.: «Der bloss etwas abnorme, verschlossene <strong>und</strong> reizbare Charakter des<br />

Angeklagten begründet die Annahme von Unzurechnungsfähigkeit oder geminderter Zurechnungsfähig-<br />

keit nicht.» Im Gegenzug begründete die Kriminalkammer die Milderung der Strafe aber explizit mit der<br />

«verminderten Widerstandskraft» des Angeklagten: «Mildernd ist auch sein abnormer Charakter zu be-<br />

rücksichtigen, dem der verbrecherische Entschluss entsprungen war <strong>und</strong> der seine moralische Widerstandsfähigkeit<br />

geschwächt hat.» 1088 Das Zugestehen mildernder Umstände diente hier dazu, das Strafmass<br />

unter Umgehung der Schuldfrage nach unten zu korrigieren. Seltener kam dagegen eine Überdehnung des<br />

Gutachtens durch die Geschworenen zugunsten der Angeklagten vor. Der erwähnten Lina H., die ihre<br />

Kinder hatte umbringen wollen, attestierten die Sachverständigen eine verminderte Zurechnungsfähigkeit.<br />

Die Geschworenen schlossen dagegen die Schuldfähigkeit vollständig aus, was für Lina H. die sofortige<br />

Freilassung zur Folge hatte, da das Gericht sichernde Massnahmen nicht für angebracht hielt. 1089<br />

Oft wirkten sich die Verteidigungsstrategien der Angeklagten, respektive die Anträge der Staatsanwälte<br />

direkt auf Divergenzen bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit aus. Solche Fälle verdeutlichen bei-<br />

spielhaft den Verhandlungscharakter von Gerichtsverfahren. Dass sich die Angeklagten psychiatrische<br />

Deutungsmuster zum Zweck der Verteidigung anzueignen vermochten, zeigt der erwähnte Fall von Hans<br />

1085 StAB BB 15.4, Band 1776, Dossier 133, Urteil gegen Emile C., 21. Dezember 1904.<br />

1086 StAB BB 15.4, Band 94, Verhandlung der Assisen gegen Karl H., 11. März 1903.<br />

1087 Solche Strafmilderungen erfolgten aufgr<strong>und</strong> von Artikel 31 des Berner StGB. Die Praxis, mildernde Umstände anstelle einer<br />

Verminderung der Zurechnungsfähigkeit anzunehmen, war im Deutschen Reich gängig, da Artikel 51 des Reichsstrafgesetzbuchs<br />

von 1871 keine verminderte Zurechnungsfähigkeit vorsah; vgl. Lengwiler, 2000, 234-236.<br />

1088 StAB BB 15.4, Band 94, Verhandlung der Assisen gegen Gottwald L., 20. März 1903.<br />

1089 StAB BB 15.4, Band 87, Verhandlung gegen Lina H. vom 7. Oktober 1898.<br />

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