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Psychiatrie und Strafjustiz

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die sich «für die Wirkung der Strafe unzugänglich» zeigten. 387 Artikel 40 des Vorentwurfs sah dann eine<br />

spezielle Behandlung von mehrfach rückfälligen DelinquentInnen vor, die über die bisher praktizierte<br />

verschärfte Bestrafung des Rückfalls hinausging. Demnach konnte ein Gericht einen mehrfach rückfälli-<br />

gen Delinquenten, sofern es überzeugt war, «dass ihn die gesetzliche Strafe nicht von weiteren Verbrechen<br />

abzuhalten vermag», an eine spezielle B<strong>und</strong>esbehörde überweisen, die über die zehn bis zwanzig Jahre<br />

dauernde <strong>und</strong> anstelle der Strafe vollzogene Verwahrung zu entscheiden hatte. Solche Verwahrungsmass-<br />

nahmen liefen darauf hinaus, rückfälligen DelinquentInnen über das für die begangene Tat angedrohte<br />

Strafmass hinaus die Freiheit zu entziehen. 388 Die vorgesehene B<strong>und</strong>esbehörde sollten den Verwahrungsentscheid<br />

denn auch weniger aufgr<strong>und</strong> juristischer Kriterien als aufgr<strong>und</strong> einer an die kriminalanthropolo-<br />

gischen Untersuchungen erinnernde «sorgfältige Aufklärung über des Verlebens der Person <strong>und</strong> einer<br />

Untersuchung über ihre Verhältnisse <strong>und</strong> Eigenschaften» fällen. 389 Strafen <strong>und</strong> Massnahmen sollten zu-<br />

dem in verschiedenen Anstalten oder Anstaltsabteilungen vollzogen werden. 390 Stooss war sich bewusst,<br />

dass die Verwirklichung des neuen Massnahmensystems zu einem guten Teil von der Bereitstellung ent-<br />

sprechender Vollzugsanstalten abhängen würde. Um einen einheitlichen Massnahmenvollzug zu gewähr-<br />

leisten, plädierte er im Einklang mit dem Gefängnisverein für eine Zentralisierung des Massnahmenvoll-<br />

zugs. Namentlich schlug er vor, dem B<strong>und</strong> Kompetenzen zur Errichtung einer «schweizerischen Zentral-<br />

anstalt für gefährliche <strong>und</strong> Berufsverbrecher» sowie von Vollzugsanstalten für jugendliche StraftäterInnen<br />

zu übertragen. 391<br />

Die von Stooss konzipierte Strafrechtsreform brach insofern mit dem bisherigen Schuldstrafrechts, als sie<br />

den staatlichen Sanktionsanspruch im Fall von sichernden <strong>und</strong> erzieherischen Massnahmen nicht durch<br />

das individuelle Verschulden begrenzte: «Die sichernde Massnahme ist weder an einen gesetzlichen Tatbe-<br />

stand noch an eine daran geknüpfte Straffolge geb<strong>und</strong>en, vielmehr wird ein Mensch nach seinem Zustand<br />

behandelt. [...] Art <strong>und</strong> Dauer der Massnahme richtet sich nach dem Zweck <strong>und</strong> dem Erfolg der Behand-<br />

lung.» 392 Im Gegensatz zu der von den Kriminalanthropologen favorisierten vollständigen Medikalisierung<br />

des Strafrechts hielt Stooss aber am Prinzip der strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> am Vergeltungs-<br />

charakter der regulären Strafen <strong>und</strong> einzelner Massnahmen fest. Dementsprechend tastete er den Rechts-<br />

begriff der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>züge der bisherigen Aufgabenteilung zwischen <strong>Strafjustiz</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> nicht an. Indem er bei verschiedenen Massnahmen vorgängige medizinische Abklärungen<br />

vorsah, eröffnete er den psychiatrischen Experten aber zugleich ein neues Tätigkeitsfeld. Eine eigentliche<br />

Medikalisierung des Massnahmenrechts fasste Stooss lediglich in Bezug auf die Verwahrung <strong>und</strong> Versor-<br />

gung unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähiger DelinquentInnen ins Auge. Für solche<br />

StraftäterInnen sah der Vorentwurf eine Ausgliederung aus dem Strafvollzug <strong>und</strong> die Einweisung in eine<br />

nicht näher umschriebene «Anstalt» vor (Artikel 10 <strong>und</strong> 11). 393 Wie in Kapitel 4.3 gezeigt wird, waren diese<br />

Bestimmungen das direkte Resultat der rechtspolitischen Interventionen der Schweizer Psychiater. Nach<br />

ihrer Begründung unterschieden sich diese Massnahmen dadurch von den übrigen Massnahmen des Vor-<br />

entwurfs, dass sie für die betroffenen StraftäterInnen kein «Übel» bedeuten sollten. Stooss wollte unzu-<br />

rechnungsfähige <strong>und</strong> vermindert zurechnungsfähige DelinquentInnen nur dann verwahren oder versorgen<br />

lassen, wenn sie für die öffentliche Sicherheit eine «Gefahr» darstellten, respektive einer Behandlung be-<br />

387 VE 1893, 51 (Artikel 23 <strong>und</strong> 40).<br />

388 Vgl. Rusca, 1981, 133-138.<br />

389 VE 1893, 49-54 (Artikel 40). Stooss, 1891, 256, bezeichnete diese Untersuchung selbst als «kriminalsoziologisch».<br />

390 VE 1893, 43 (Artikel 21 <strong>und</strong> 22), 51 (Artikel 40), 59 (Artikel 26).<br />

391 Stooss, 1891, 257-259.<br />

392 Stooss, 1905, 3 (Hervorhebungen im Original).<br />

393 VE 1893, 20-25 (Artikel 10-11); Rusca, 1981, 124-132.<br />

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