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Psychiatrie und Strafjustiz

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sie wegen der sittlichen Freiheit in der Überlegung <strong>und</strong> Ausführung seiner Verbrechen wäre, antworten<br />

wir: der Mensch ist verantwortlich, weil er in Gesellschaft lebt.» 298 Als Modell einer vom individuellen<br />

Verschulden unabhängigen «sozialen Rückwirkung» nannte Ferri etwa die bereits praktizierte Verwahrung<br />

von Geisteskranken, welche die öffentliche Ordnung gefährdeten. 299 Ferris «soziale Verantwortlichkeit»<br />

brach definitiv mit den Prinzipien des bürgerlichen Schuldstrafrechts, wie sie auch dem italienischen Straf-<br />

gesetzbuch von 1886 zugr<strong>und</strong>e lagen. Für die Justizpraxis bedeutete das Reformkonzept, dass damit das<br />

Kriterium der Zurechnungsfähigkeit obsolet geworden wäre. Zugleich erlaubte das Konzept der «sozialen<br />

Verantwortlichkeit» die Sanktionspraxis über das Legalitätsprinzip hinaus auszuweiten.<br />

Als Alternative zum Schuldstrafrecht konzipierte Ferri ein «System abwehrender Massnahmen», das die<br />

bisherige Trennung zwischen strafrechtlichen Sanktionen <strong>und</strong> prophylaktischen Polizeimassregeln auf-<br />

hob. 300 Solche spezialpräventiven Massregeln waren von liberalen Strafrechtsreformern wie Feuerbach zu<br />

Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts aus der <strong>Strafjustiz</strong> verbannt worden. Die meisten europäischen Staaten sahen<br />

sich jedoch bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bemüssigt, Polizeimassregeln auf der Ebene<br />

des Verwaltungsrechts sukzessive wieder einzuführen. Dabei handelte es sich vor allem um Kompetenzen<br />

der administrativen Behörden, geisteskranke, «liederliche» oder unterstützungsbedürftige Personen<br />

zwangsweise in Anstalten versorgen zu können. Ebenfalls zur Gruppe der administrativ Verwahrten ge-<br />

hörten unzurechnungsfähige DelinquentInnen, die in den Augen der Behörden eine «Gefahr» für die öf-<br />

fentliche Sicherheit darstellten. 301 Ferris Strafrechtsreform beruhte letztlich auf der Idee, diese administra-<br />

tiven <strong>und</strong> ebenfalls unabhängig vom individuellen Verschulden konzipierten Massnahmen in das Straf-<br />

recht zu integrieren <strong>und</strong> dieses dadurch zu einer umfassenden «soziale Defensive» gegen abweichendes<br />

Verhalten zu machen. Konkret unterschied Ferri zwischen «Massregeln der Vorbeugung», welche vor<br />

allem den Bereich der öffentlichen Hygiene umfassen sollten, «Massregeln der Wiederherstellung», durch<br />

die Opfer von Verbrechen entschädigt werden sollten, sowie «Massregeln der Repression» <strong>und</strong> «Ausson-<br />

derungs-Massregeln», welche sowohl Freiheitsstrafen, als auch Sicherungsmassregeln gegen «unanpassbare<br />

Elemente» beinhalteten. 302<br />

Ein taugliches Instrument zur Bemessung dieser Massregeln sah Ferri in den von Garofalo vorgeschlage-<br />

nen Kriterien der «Gemeingefährlichkeit» («temebilità») <strong>und</strong> der «Anpassungsfähigkeit» der DelinquentIn-<br />

nen. Demnach sollte sich die Reaktion der Gesellschaft in Form der Strafe nach «der Gefahr für die Zu-<br />

kunft, auf welche sich aus dem einmal begangenen Verbrechen schliessen lässt, nach der Leichtigkeit der<br />

Wiederholung des Verbrechens <strong>und</strong> nach den Verhältnissen der Persönlichkeit, der Zeit <strong>und</strong> des Ortes»<br />

richten. 303 Der Grad der sozialen Abweichung <strong>und</strong> der biologischen Anpassungsfähigkeit der StraftäterIn-<br />

nen löste damit das Verschulden als Kriterium der Sanktionsbemessung ab. In den Augen Ferris war es<br />

die Aufgabe medizinischer Sachverständiger, die «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen zu beurtei-<br />

len, wobei sie sich der von den Kriminalanthropologen aufgestellten Verbrechertypologien bedienen sollten.<br />

Dadurch sei es möglich, «die verschiedenen Mittel sozialer Abwehr den verschiedenen anthropologi-<br />

schen Kategorien von Verbrechern anzupassen». 304 In rechtlicher Hinsicht wollte Ferri eine Anpassung<br />

298 Ferri, 1896, 290.<br />

299 Ferri, 1896, 277f.<br />

300 Ferri, 1896, 330-334.<br />

301 Vgl. Kp. 8.<br />

302 Ferri, 1896, 335-338.<br />

303 Ferri, 1896, 340. Vgl. Lombroso 1881, 120-122. Garofalos Schrift Di un criterio positivo della pénalità erschien 1880 in Neapel; vgl.<br />

Hering, 1966, 68, 78. Zum Kriterium der Anpassungsfähigkeit: Garofalo, 1888, 229-244.<br />

304 Ferri, 1896, 341,<br />

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