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Psychiatrie und Strafjustiz

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«Perverse Neigungen» <strong>und</strong> «ethische Defekte»<br />

Um eine eigentliche «Einpflanzung von Perversionen» (Michel Foucault) ging es dagegen im Fall von<br />

Hans Rudolf W., einem 24jährigen Büroangestellten, der 1903 verschiedener Diebstähle, Unterschlagun-<br />

gen <strong>und</strong> dem Nichtbezahlen der Militärsteuer angeschuldigt war. 1041 Sein Fall ist insofern bemerkenswert,<br />

als erst die psychiatrischen Sachverständigen um die eingeklagten Vermögensdelikte herum einen Diskurs<br />

über männliche Sexualität entwickelten. Die Medikalisierung kriminellen Verhaltens erfolgte in diesem Fall<br />

in Form einer Sexualisierung. Gleichzeitig zeigt dieses Fallbeispiel, wie eng die psychiatrischen Sachver-<br />

ständigen verschiedene Deutungsmuster, welche sowohl das sexuelle Verhalten, als auch Verstösse gegen<br />

soziale Erwartungen betrafen, miteinander verzahnten. Anlass zur psychiatrischen Begutachtung hatte<br />

auch in diesem Fall die Beobachtung eines medizinischen Laien gegeben. Ein zu den Akten gelangter Brief<br />

des Staatsschreibers des Kantons Bern, in dem sich dieser über die «Abweichung von der Norm» <strong>und</strong> das<br />

«unstete <strong>und</strong> zerfahrenen Wesen» seines ehemaligen Angestellten äusserte, hatte den zuständigen Untersu-<br />

chungsrichter bewogen, Hans Rudolf W. psychiatrisch untersuchen zu lassen. Wie der Brief weiter fest-<br />

hielt, habe Hans Rudolf W. immer wieder versucht, sich mit Geschenken <strong>und</strong> Prahlereien die Gunst der<br />

Schüler des nahe gelegenen Gymnasiums zu erwerben. Auf einen «sittlichen <strong>und</strong> intellektuellen Defekt»<br />

würde zudem seine «sinnlose Geldverschwendung» hindeuten.<br />

In ihrem Gutachten entkleideten die Sachverständigen aber die eingeklagten Vermögensdelikte ihrer<br />

scheinbaren Banalität <strong>und</strong> machten dahinter einen ganzen Komplex von sozialen <strong>und</strong> sexuellen Verfeh-<br />

lungen sichtbar. Die Psychiater zeichneten einen Lebenslauf nach, der geprägt war vom unerfüllten<br />

Wunsch nach einer höheren Schulbildung <strong>und</strong> dem damit verb<strong>und</strong>enen sozialen Prestige. Seit seiner ge-<br />

zwungenermassen angetretenen Berufslehre habe Hans Rudolf W. versucht, sich durch kleinere Diebstäh-<br />

le, das nötige Geld zu verschaffen, um damit seinen Fre<strong>und</strong>en, die meist studierten oder das Gymnasium<br />

besuchten, imponieren zu können. Ähnlich wie im Fall von Paul C. sahen die Experten in Hans Rudolf<br />

W. einen jungen Mann der wegen seiner angeborenen «moralischen Schwäche» die ihm obliegende soziale<br />

Rolle als ältester Sohn einer vaterlosen Familie nicht zu erfüllen vermochte <strong>und</strong> deren Existenz mit seinen<br />

Delikten verantwortungslos aufs Spiel setzte. Scheinbar beiläufig kam das psychiatrische Gutachten auf<br />

das Sexualleben von Hans Rudolf W. zu sprechen. Der Anknüpfungspunkt dazu war sein häufiger Um-<br />

gang mit Gymnasiasten. Die Experten stellten bei ihm. eine «besondere Vorliebe zum Verkehr mit Kna-<br />

ben» fest. So habe er ein Bedürfnis, «Knaben Gefälligkeiten zu erweisen», sie zu beschenken <strong>und</strong> gratis<br />

Nachhilfest<strong>und</strong>en zu erteilen. Allerdings sei es im Laufe solcher Beziehungen nie zu sexuellen Handlungen<br />

gekommen. Hans Rudolf W. selbst war es bis anhin nie in den Sinn gekommen, seinen fre<strong>und</strong>schaftlichen<br />

Beziehungen zu jüngeren Knaben einen sexuellen Aspekt beizumessen. Für die Sachverständigen gab es<br />

jedoch keinen Zweifel, dass sein «perverses geschlechtliches Fühlen» <strong>und</strong> der daraus erwachsene Wunsch,<br />

über seine finanziellen Möglichkeiten hinaus seinen geliebten Fre<strong>und</strong>en mit Geschenken zu imponieren,<br />

ihn zum Begehen der eingeklagten Delikte getrieben hätten. Die psychiatrischen Experten erforschten<br />

denn auch ausführlich die sexuellen Präferenzen von Hans Rudolf W., insbesondere dessen Beziehungen<br />

zum andern Geschlecht. Sie hielten es für «auffallend», dass «W. niemals zum weiblichen Geschlecht ir-<br />

gendwelche Neigungen empf<strong>und</strong>en haben will». Allerdings stellten sie fest, dass die «Neigungen <strong>und</strong> Be-<br />

schäftigungen des Angeklagten kein besonderes weibisches Wesen» verraten würden. So habe er Freude<br />

am «Botanisieren, Turnen, Markensammeln, Stenographieren, am Studium der lateinischen Sprache, am<br />

Lesen überhaupt». Die Sachverständigen bezogen sich dabei implizit auf die Annahme, dass ein Mann mit<br />

1041 Dieser Abschnitt entspricht einer leicht angepassten Fassung von Germann, 1999, 124-126.<br />

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