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Psychiatrie und Strafjustiz

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konnte. Solche dégénérés supérieurs <strong>und</strong> déséquilibrés würden auch bei intakter Intelligenz äusseren Einflüssen,<br />

Versuchungen <strong>und</strong> Laster leichter als ihre «normalen» Mitmenschen nachgeben <strong>und</strong> damit vergleichsweise<br />

häufiger straffällig werden. Die Bedeutung der dégénérescence als forensisch-psychiatrisches Deutungsmuster<br />

zeigt sich exemplarisch in der Schrift Criminalité et dégénérescence des Psychiaters Charles Féré (1852–1907),<br />

der 1887 Arzt am Dépôt de la préfecture de police in Paris wurde <strong>und</strong> damit auch für die Begutachtung von<br />

StraftäterInnen zuständig war. Féré lehnte die Existenz eines speziellen Verbrechertypus ab <strong>und</strong> postulier-<br />

te stattdessen eine enge «parenté» von Kriminalität, Wahnsinn <strong>und</strong> Degeneration. Primäre Ursache der<br />

Degeneration seien die wachsenden Anforderungen der modernen Gesellschaft, die bei einzelnen Individuen<br />

zu einer Erschöpfung («épuisement») des Gehirns führten, was im Gegenzug die Widerstandskraft<br />

gegen Laster <strong>und</strong> Ausschweifungen vermindere. Die durch solche «excitations» geschwächten Individuen<br />

würden ihrerseits Nachkommen zeugen, die aufgr<strong>und</strong> ihrer Anlage «incapables de supporter leur propre<br />

sort» seien. 230 Das Deutungsmuster der dégénérescence erlaubte somit, kriminelles Verhalten auf eine «ver-<br />

minderte Widerstandskraft» zurückzuführen, wobei sich anlage- <strong>und</strong> umweltbedingte Faktoren kombinie-<br />

ren liessen. In der Justizpraxis gingen die französischen Psychiater davon aus, dass eine solche «verminder-<br />

te Widerstandskraft» die strafrechtliche Verantwortlichkeit der davon betroffenen Individuen zumindest<br />

reduzierte. Im Vergleich zu den Spezialmanien bedeutete dies eine beträchtliche Ausweitung der Zahl der<br />

«zweifelhaften Geisteszustände».<br />

In der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> wurde die französische Degenerationstheorie seit den 1860er Jahren rezipiert.<br />

Wilhelm Griesinger (1817–1886), dessen paradigmatische Aussage «Geisteskrankheiten sind Gehirnkrank-<br />

heiten» in der zweiten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte zur Gr<strong>und</strong>lage des disziplinären Selbstverständnisses wurde, in-<br />

tegrierte unter Berufung auf Morel den Begriff der «neuropathischen Disposition» in sein Krankheitskon-<br />

zept. 231 Griesingers Aneignung der Degenerationstheorie hatte zur Folge, dass auch in Deutschland ein<br />

bislang von den Anstaltspsychiatern nur am Rande beachtetes Übergangsgebiet zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit, das eine Vielzahl sozialer Abweichungen umfasste, psychiatrisch erfasst wurde. Diese, auf das<br />

Degenerationskonzept gestützte Ausweitung des psychiatrischen Deutungsanspruchs wurde in den fol-<br />

genden Jahrzehnten von Psychiatern wie Richard von Krafft-Ebing, Julius August Ludwig Koch (1841–<br />

1908) <strong>und</strong> Emil Kraepelin weiter vorangetrieben. 232<br />

Vor allem Krafft-Ebing trug massgeblich zur Verbreitung des Degenerationskonzepts in der deutschspra-<br />

chigen Forensik bei. Krafft-Ebing publizierte seit 1866 regelmässig in gerichtsmedizinischen Zeitschriften,<br />

1872 erschien seine Gr<strong>und</strong>züge der Criminalpsychologie, die für lange Zeit zum gerichtspsychiatrischen Refe-<br />

renzwerk im deutschen Sprachraum avancierte. 233 Bereits 1868 thematisierte er die Bedeutung «psychopa-<br />

thischer Zustände» für die forensisch-psychiatrische Praxis. Krafft-Ebing vermeinte im Justizalltag eine<br />

Zunahme jener Fällen feststellen zu können, wo «die Experten zwar nicht im Stande sind, den Nachweis<br />

einer wohl charakterisierten Psychose bei der Exploration eines Angeklagtenzu liefern, aber im Hinblick<br />

auf gewisse Anomalien seiner körperlichen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung, auf gewisse ungewöhnliche Motive<br />

<strong>und</strong> Umstände seines verbrecherischen Handlung, sich gedrungen fühlen, die Richter auf abnorme, meist<br />

hereditäre Bedingungen, unter denen der Täter steht <strong>und</strong> seine Tat vollbrachte, hinzuweisen <strong>und</strong> auf die<br />

Annahme mildernder Umstände um jener willen hinzuwirken». 234 Durch Vererbung übertragene «psycho-<br />

pathische Zustände», die nicht als Geisteskrankheiten bezeichnet werden konnten, äusserten sich, so<br />

230 Féré, 1888, 85-96. Vgl. Renneville, 1994a, 126f.; Nye, 1984, 125.<br />

231 Vgl. Griesinger, 1872.<br />

232 Vgl. Roelcke, 1999, 80-82, 88-100; Weindling, 1989, 80-89; Schmiedebach, 1985; Werlinder, 1978, 64-67.<br />

233 Vgl. Oosterhuis, 2000, 77, 85f.<br />

234 Krafft-Ebing, 1868, 188.<br />

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