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Psychiatrie und Strafjustiz

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Tat- <strong>und</strong> Schuldfragen, wozu auch die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die Zubilligung mil-<br />

dernder Umstände gehörten. Entscheidungen über prozessuale Fragen, wie etwa das Einholen eines psy-<br />

chiatrischen Gutachtens während der Verhandlung, sowie die Strafzumessung gehörten dagegen in die<br />

Kompetenz der Kriminalkammer. 623 Erst die Reform des Strafverfahrens von 1928 legte eine gemeinsame<br />

Urteilsberatung von Laien- <strong>und</strong> Berufsrichtern fest. 624 Dem Charakter eines Volksgerichts entsprechend,<br />

war gegen ein Urteil der Geschworenen keine Appellation beim Obergericht möglich. Den Verurteilten<br />

standen damit nur eng beschränkte Rechtsmittel zur Verfügung, um auf ein Urteil zurückzukommen. 625<br />

Ab 1880 wurden die Geschworenengerichte insofern entlastet, als nun Fälle, in denen ein «unumw<strong>und</strong>enes<br />

Geständnis» des Angeklagten vorlag, allein von der Kriminalkammer erledigt werden konnten. Diese Be-<br />

stimmung gelangte aber in Fällen, wo die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten in Frage stand, nicht zur<br />

Anwendung. 626<br />

Juristisch-psychiatrische Kompetenzverteilungen im Strafverfahren<br />

Das Gesetz über das Strafverfahren von 1850 regelte den Einsatz von Sachverständigen in der Vorunter-<br />

suchung <strong>und</strong> im Hauptverfahren. Sachverständige sollten dann zum Einsatz gelangen, wenn die Untersu-<br />

chungs- oder Gerichtsbehörden zur Feststellung rechtlich relevanter Tatsachen besondere Fachkenntnisse<br />

benötigten. Die Sachverständigengutachten betrafen somit in der Regel nur einen Teilbereich des ganzen<br />

Strafverfahrens. Explizit sah das Strafverfahren den Beizug von Sachverständigen für Untersuchungen bei<br />

gewaltsamen Todesfällen, Verletzungen <strong>und</strong> für die Untersuchung von gefälschten Schriftstücken vor. 627<br />

Eine Bestimmung, die allerdings bei psychiatrischen Gutachten nicht eingehalten wurde, untersagte die<br />

Aushändigung der Untersuchungsakten an die Sachverständigen. 628<br />

Indem das Strafverfahren den Beizug von Sachverständigen regelte, legte es die Kompetenzverteilung<br />

zwischen den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> fest. Das Berner Strafverfahren umschrieb die<br />

Untersuchung des Geisteszustands eines Angeschuldigten in Artikel 206: «Erscheint der Angeschuldigte<br />

als taubstumm, blödsinnig oder wahnsinnig, so erforscht der Richter in dieser Hinsicht die Wahrheit. Er-<br />

gibt sich aus der darüber angeordneten Untersuchung, dass der Angeschuldigte sich verstellt, so kann dies<br />

als eine Vermutung seiner Schuld betrachtet werden [...]» 629 Massgeblich für die Anordnung einer Begut-<br />

achtung eines Angeschuldigten waren demnach die Einschätzungen der Justizbeamten. Das Gesetz liess es<br />

offen, wie die «Erforschung der Wahrheit» vonstatten gehen sollte <strong>und</strong> ob medizinische oder andere<br />

Sachverständige mit der Untersuchung zu beauftragen waren. Bereits diese Bestimmung macht deutlich,<br />

dass der psychiatrische Zugriff auf StraftäterInnen in jedem Fall von der Sensibilität der Untersuchungs-<br />

beamten <strong>und</strong> Richter gegenüber zweifelhaften Geisteszuständen abhängig war. Erst auf deren Verfügung<br />

hin gerieten DelinquentInnen ins Blickfeld der <strong>Psychiatrie</strong>. Es wird in Kapitel 7.2 auf die Frage zurückzu-<br />

kommen sein, welche Umstände die Berner Justizbehörden im Einzelfall veranlassten, an der «Normalität»<br />

von StraftäterInnen zu zweifeln.<br />

Das Berner Strafverfahren widerspiegelte die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herauskristalli-<br />

sierte Kompetenzverteilung zwischen den Justizorganen <strong>und</strong> ihren Sachverständigen insofern, als es Gut-<br />

achten über den Geisteszustand eines Angeschuldigten keine verbindliche Wirkung einräumte. Psychiatri-<br />

623 StV 1850, Artikel 426-447.<br />

624 Sollberger, 1996, 129-132.<br />

625 StV 1850, Artikel 448f., 478-491.<br />

626 GDV, 19, 1880, 60-64.<br />

627 StV 1850, Artikel 97-123.<br />

628 StV 1850, Artikel 103; Zeitschrift des Berner Juristenvereins, 38, 1902, 188-190.<br />

629 StV 1850, Artikel 206.<br />

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