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Psychiatrie und Strafjustiz

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Platner 1797 unter dem Krankheitsbegriff der «Amentia occulta» einen «Drang <strong>und</strong> Bestreben des beläs-<br />

tigten Gemüts nach einer gewaltsamen Handlung» beschrieben hatte 207, machten sich die Ärzte kurz nach<br />

1800 definitiv daran, die Existenz solcher isolierter Störungen des Willens <strong>und</strong> des Gemüts, welche die<br />

strafrechtliche Verantwortlichkeit aufhoben, zu postulieren. Die noch jungen «Seelenheilk<strong>und</strong>e» weitete<br />

damit nicht nur das herkömmliche Konzept des Wahnsinns beträchtlich aus, sondern schuf sich auch ein<br />

Arsenal von Deutungsmustern, dank denen sich die ärztlichen Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsansprüche ge-<br />

genüber der Justiz wirksam vertreten liessen.<br />

Den Anfang dazu machte der französische <strong>Psychiatrie</strong>pionier <strong>und</strong> Direktor der Pariser Irrenanstalt Bicêtre<br />

Philippe Pinel (1745–1826) mit der Beschreibung des Krankheitsbilds der «Manie ohne Delirium» in sei-<br />

nem Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale von 1801. Pinel verstand darunter eine «Verkehrtheit<br />

der Willensäusserung, nämlich ein blinder Antrieb zu gewalttätigen Handlungen [...], ohne dass man irgend<br />

eine beherrschende Idee, irgend eine Täuschung der Einbildungskraft, welche die bestimmende Ursache<br />

dieses unglücklichen Hanges wäre, angeben könnte». 208 Was Pinel den Lesern seines Traité vor Augen<br />

führte, war eine isolierte Schädigung des Willens, die die Integrität der übrigen psychischen Funktionen<br />

nicht betraf. In Deutschland wurde das neue Krankheitsbild zuerst von Johann Christian Reil (1759–1813)<br />

in seinen Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen von 1803 rezipiert. In<br />

enger Anlehnung an Pinel beschrieb Reil das Bild einer «Wut ohne Verkehrtheit»: «Alle Seelenkräfte, das<br />

Wahrnehmungsvermögen, die Einbildungskraft <strong>und</strong> der Verstand sind in ihren Äusserungen ges<strong>und</strong>, bloss<br />

einige Handlungen sind abnorm, weil das Vorstellungsvermögen sie nicht, [...] sondern weil ein innerer<br />

blinder <strong>und</strong> organischer Drang sie bestimmt. Der Kranke übt als Automat Grausamkeit aus, ohne dass<br />

Vorstellungen der Lust oder Unlust, fixe Ideen oder Täuschungen der Einbildungskraft ihn dazu leiteten.»<br />

Reil beschrieb solche Handlungen als die Folge eines Kampfes zwischen der Vernunft <strong>und</strong> einem «wilden<br />

Instinkt zu blutdürftigen Handlungen», der, vom Unterleib ausgehend, schliesslich die Herrschaft über das<br />

Gehirn <strong>und</strong> das Handeln erlange. 209<br />

Auf die forensische Bedeutung des neuen Krankheitsbilds wies fünf Jahre später Reils Fre<strong>und</strong>, der Psy-<br />

chologe Hoffbauer, hin. Nach Hoffbauer konnten Handlungen, die im «Zustande eines ausserordentli-<br />

chen Antriebes», wie er die «Wut ohne Verkehrtheit» nannte, begangen worden waren, ihrem Urheber<br />

nicht zugerechnet werden, «da in diesem Zustande der Mensch seiner nicht mächtig ist». 210 Dass dem<br />

neuen Krankheitsbild in erster Linie die Funktion eines kognitiven Musters zur Rationalisierung ansonsten<br />

unerklärlicher Handlungen zukam, verdeutlicht die konzeptuelle Weiterentwicklung der Manielehre in<br />

Frankreich. 1825 behauptete der Pariser Psychiater Etienne-Jean Georget (1795–1828) die Existenz einer<br />

monomanie homicide, die sich ausschliesslich in einem zwanghaften Mordtrieb äussern würde. Zwei Jahre<br />

später anerkannte der Maître à penser der französischen <strong>Psychiatrie</strong>, Jean-Etienne Esquirol (1772–1840),<br />

definitiv die Existenz einer solchen «Manie ohne Delirium» im Rahmen seiner eigenen Monomanielehre.<br />

In seinem Lehrbuch von 1838 lieferte er dann die klassische Beschreibung einer «Mordmonomanie», wo-<br />

bei er zwischen zwei Typen unterschied: einerseits jene Fälle, in denen die Kranken von einer fixen Idee,<br />

wie das Opfer einer Verfolgung zu sein, ausgingen, dann aber folgerichtig handelten, andererseits jene<br />

rätselhaften Fälle einer monomanie instinctive, bei denen keine Veranlassung für die Tat ausgemacht werden<br />

könne: «[...] il existe une espèce de monomanie-homicide dans laquelle on ne peut observer aucun<br />

207 Fischer-Homberger, 1983, 163f.<br />

208 Philippe Pinel, Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie, Wien 1801, 166, zitiert: Kaufmann, 1995,<br />

320. Zur Rezeption der «Manie ohne Delirium» in Deutschland: Friedreich, 1835, 499-541; zuletzt: Martschukat, 2000, 148-184;<br />

Martschukat, 1997, 226-231.<br />

209 Reil, 1803, 387-395, Zitate 387f.<br />

210 Hoffbauer [1808], 1823, 353.<br />

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