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Psychiatrie und Strafjustiz

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4.3 Die rechtspolitischen Interventionen des Vereins schweizerischer Irrenärzte<br />

Die 1890 anlaufende Vereinheitlichung <strong>und</strong> Reform des schweizerischen Strafrechts ermöglichte den<br />

Schweizer Psychiatern, ihre kriminalpolitischen Vorstellungen direkt in den Gesetzgebungsprozess einzu-<br />

bringen. Der Verein schweizerischer Irrenärzte beteiligte sich zwischen 1889 <strong>und</strong> 1918 tatsächlich intensiv an<br />

den Vorbereitungsarbeiten zu einem Strafgesetzbuch. Parallel dazu beschäftigte sich der Verein mit der<br />

Vereinheitlichung des Zivilrechts sowie mit verschiedenen Entwürfen für ein schweizerisches Irrenge-<br />

setz. 513 Rechtliche Fragen wurden dadurch zum eindeutigen Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten. 514 Nach<br />

der Jahrh<strong>und</strong>ertwende beklagten sich einzelne Mitglieder sogar über eine gewisse Vernachlässigung wis-<br />

senschaftlicher Fragestellungen. Diese Unzufriedenheit mit der Schwerpunktsetzung innerhalb des Ver-<br />

eins trug schliesslich dazu bei, dass einzelne Psychiater <strong>und</strong> Nervenärzte zusammen mit Neurologen 1909<br />

die Schweizerische Neurologische Gesellschaft gründeten. 515<br />

Im Vergleich zu den radikalen Positionsbezügen einzelner Exponenten der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>,<br />

zeichneten sich die kriminalpolitischen Interventionen des Vereins von Beginn an durch eine gewisse<br />

Selbstbeschränkung aus. Die Schweizer Irrenärzte waren sichtlich bemüht, das Angebot der Straf-<br />

rechtsreformer zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit nicht durch Forderungen nach einer<br />

gr<strong>und</strong>legenden Umgestaltung des Strafrechts im Sinne eines reinen Massnahmenrechts aufs Spiel zu<br />

setzen. Deutlich zum Ausdruck kam diese durch die politischen Umstände bedingte Mässigungsstrategie<br />

in dem bereits in der Einleitung zitierten Votum von Speyrs auf der Jahresversammlung des Vereins von<br />

1893, auf der die Leitlinien der disziplinären Kriminalpolitik festgelegt wurden: «Um etwas zu erreichen,<br />

werden wir uns in unserer heutigen Besprechung auf wenige, gr<strong>und</strong>legende Punkte beschränken<br />

müssen.» 516 Die Positionsbezüge des Vereins von 1893 beschränkten sich denn auch auf zwei «Kardi-<br />

nalfragen» (Wilhelm von Speyr), die die Tätigkeit psychiatrischer Sachverständiger unmittelbar betrafen:<br />

Die Definition der Zurechnungsfähigkeit sowie Probleme im Zusammenhang mit sichernden Massnahmen. 517 Erst nach<br />

der Jahrh<strong>und</strong>ertwende erweiterte sich das kriminalpolitische Themenspektrum des Vereins auf weitere, im<br />

Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht oder nur am Rande berücksichtigte Gebiete wie<br />

Sittlichkeitsdelikte oder eugenische Massnahmen. Das folgende Unterkapitel analysiert die<br />

kriminalpolitischen Interventionen der Schweizer Irrenärzten in den genannten Bereichen im Hinblick auf<br />

die ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Erwartungen <strong>und</strong> standespolitischen Interessen sowie die sich daraus<br />

ergebenden rechtspolitischen Debatten. Namentlich gilt es die Frage zu diskutieren, inwiefern die<br />

rechtspolitischen Postulate der Irrenärzte als Bestrebungen zu einer Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens <strong>und</strong> als Versuche zu einer Ausweitung des psychiatrischen Bezugssystems anzusehen sind,<br />

respektive inwiefern es sich dabei um den Versuch handelte, die von Forel <strong>und</strong> Bleuler geforderte radikale<br />

Kriminalpolitik auf dem Weg der Gesetzgebung zu realisieren.<br />

513 Die Schweizer Irrenärzte beschäftigten sich 1896/97 intensiv mit der Vereinheitlichung des Zivilrechts. Ihre diesbezüglichen<br />

<strong>und</strong> im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter behandelten Postulate betrafen im Wesentlichen die Definition der zivilrechtlichen<br />

Handlungsfähigkeit, das Eherecht – namentlich das Eheverbot für Geisteskranke –, sowie das Vorm<strong>und</strong>schaftsrecht. Wie im Fall<br />

des Strafrechts beschäftigten sich die Irrenärzte damit in erster Linie mit jenen Rechtsbereichen, durch die sie in ihrer Rolle als<br />

Sachverständige unmittelbar betroffen waren; vgl. BAR E 22 (-), Band 2025, Verein schweizerischer Irrenärzte. Kommissionsantrag<br />

betr. die am 7. <strong>und</strong> 8. Juni in Münsingen zu besprechenden zivilrechtlichen Fragen, Mai 1897.<br />

514 Vgl. Ladame, 1920/22, 135-141.<br />

515 Vgl. Müller, 2001, 138-141.<br />

516 Speyr, 1894, 183.<br />

517 Vgl. Barras/Gasser, 2000.<br />

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