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Psychiatrie und Strafjustiz

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7 Die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit: Institutionelle Mechanismen <strong>und</strong><br />

psychiatrische Deutungsmuster<br />

Statistische Auswertungen, wie sie in Kapitel 6 unternommen worden sind, erlauben Erkenntnisse über<br />

Entwicklungstendenzen <strong>und</strong> die Verbreitung von Deutungs- <strong>und</strong> Handlungsmustern in der forensisch-<br />

psychiatrischen Praxis. Sie liefern Erkenntnisse, die Ergebnis einer retrospektiven Beobachtung sind <strong>und</strong><br />

als solche den zeitgenössischen AkteurInnen nicht zugänglich waren. Nicht in den Blick einer Strukturana-<br />

lyse, die auf die Feststellung statistischer Regelmässigkeiten bedacht ist, kommen dadurch Sinn- <strong>und</strong> Hand-<br />

lungszusammenhänge, die für das (kommunikative) Handeln der AkteurInnen bestimmend waren. Ebenfalls<br />

ausgeblendet bleibt die Aneignung, Variation <strong>und</strong> Reproduktion normativer <strong>und</strong> kognitiver Regelkomple-<br />

xe in der gesellschaftlichen Praxis. 760 Kriminalfälle, wie der zu Beginn dieses Untersuchungsteils erwähnte<br />

Interlakener Mordfall, werden aufgr<strong>und</strong> statistischer Daten zwar als Manifestationen bestimmter Hand-<br />

lungsmuster verortet, die ihnen inhärenten Deutungsmuster <strong>und</strong> Handlungsabläufe lassen sich dagegen<br />

nur durch qualitative Einzelfallanalysen erschlossen, deren Ziel weniger das Herstellen repräsentativer<br />

Aussagen als das Aufzeigen der Varietät innerhalb eines bestimmten Handlungsfelds sein muss. 761<br />

Im Zentrum der folgenden qualitativen Analyse steht die Produktion <strong>und</strong> Transformations sozialen Sinns in der<br />

forensisch-psychiatrischen Praxis. In der Einleitung ist dargelegt worden, dass forensisch-psychiatrische Begut-<br />

achtungen als Sinnbildungsprozesse betrachtet werden können, die an der Grenze der beiden Bezugssys-<br />

teme <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> angesiedelt sind. Die strukturelle Koppelung der beiden Bezugsysteme<br />

über den Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit bedingte insofern Prozesse kollektiver Sinnbildung, als<br />

die Sachverständigen angehalten waren, Grenzen zwischen «normaler» <strong>und</strong> «abnormer» Kriminalität zu<br />

ziehen <strong>und</strong> die Justizbehörden mit Angeboten zur Deutung kriminellen Verhaltens zu versorgen. Die<br />

Produktion <strong>und</strong> Aneignung dieses psychiatrischen Wissens war im Gegenzug in spezifische Handlungs-<br />

konstellationen eingeb<strong>und</strong>en, die den involvierten AkteurInnen unterschiedliche Handlungskompetenzen<br />

zugestanden. Unter welchen konkreten Konstellationen solche Sinnbildungsprozesse in der Berner Justiz-<br />

praxis abliefen <strong>und</strong> welche Auswirkungen sie zeitigten, ist Gegenstand der folgenden Analyse. Aufgr<strong>und</strong><br />

von Gerichts- <strong>und</strong> Krankenakten soll aufgezeigt werden, wie sich die bislang auf der Ebene psychiatri-<br />

scher <strong>und</strong> kriminalpolitischer Diskurse thematisierten Medikalisierungstendenzen in einzelnen Kriminal-<br />

fällen manifestierten. Untersucht werden einerseits die institutionellen Mechanismen, die mit einer Medikalisie-<br />

rung kriminellen Verhaltens verb<strong>und</strong>en waren, sowie die dabei zum Tragen kommenden Akteurs- <strong>und</strong><br />

Handlungskonstellationen. Zum andern wird die Produktion <strong>und</strong> Aneignung psychiatrischer Deutungsmuster kri-<br />

minellen Verhaltens im Berner Justizalltag analysiert.<br />

Der Aufbau dieses Kapitels folgt im Wesentlichen dem Ablauf des Strafverfahrens. Nach einigen einleitenden<br />

Bemerkungen zu den ausgewerteten Quellen wird in Kapitel 7.2 die Frage diskutiert, welche Umstände in der<br />

Justizpraxis Anlass zu einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens geben konnten. Kapitel 7.3 thematisiert<br />

anhand der Informationsbeschaffung durch die Sachverständigen die wissenschaftspraktische Seite der psychi-<br />

atrischen Begutachtungspraxis. Kapitel 7.4 <strong>und</strong> 7.5 behandeln die sinnbildende Funktion psychiatrischer Gutach-<br />

ten <strong>und</strong> analysieren die diskursive Struktur der durch die Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte verwendeten Deutungsmus-<br />

ter kriminellen Verhaltens. Kapitel 7.6 untersucht die Aneignung psychiatrischer Deutungsangebote im Rahmen<br />

juristischer Entscheidungsprozesse. Abger<strong>und</strong>et wird das Kapitel durch eine Zusammenfassung, die die Unter-<br />

suchungsergebnisse unter dem Aspekt der Integration der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in die bürgerliche Gesellschaft<br />

bündelt.<br />

760 Vgl. Reckwitz, 1997, 32-44.<br />

761 Vgl. Kelle/Kluge, 1999, 45.<br />

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