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Psychiatrie und Strafjustiz

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zeigt, dass Otto Z. mit seinen Klagen seitens des Psychiaters durchaus mit einem gewissen Verständnis<br />

rechnen konnte, schloss dieser doch aufgr<strong>und</strong> der beobachteten «Gefühlsreaktion» nicht aus, «dass er den<br />

Einruch [...] nicht, oder nicht so begangen hat, wie man es annimmt». Die von Otto Z. geäusserten Be-<br />

schwerden seien auf jeden Fall nicht Zeichen einer beginnenden Geisteskrankheit, sondern «eine Reaktion<br />

auf die Haft». Da am Urteil nichts zu ändern sei, riet Wyrsch der Anstaltsleitung, dass man Otto Z. etwas<br />

entgegenkomme <strong>und</strong> unter Umständen auch leichte Schlafmittel verabreiche. 1613 Ähnlich gelagert war der<br />

Fall des wegen Veruntreuung verurteilten Emil G., der sich über Erbrechen <strong>und</strong> Blut im Speichel beklagte<br />

<strong>und</strong> sich erk<strong>und</strong>igte, «ob er nicht in Behandlung gehen sollte seiner Nerven wegen». Für Wyrsch waren<br />

diese Beschwerden aber nicht Hauptgr<strong>und</strong> für die Konsultation, er vermutete vielmehr, dass sich Emil G.<br />

«einfach aussprechen <strong>und</strong> die Sachen von Herzen reden möchte». Der Psychiater diagnostizierte bei ihm<br />

eine «neurotische Depression mit psychogenen Erscheinungen (Erbrechen usw.)». 1614 Es ist anzunehmen,<br />

dass sowohl Otto Z., als auch Emil G. das Angebot der psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>e in Anspruch nah-<br />

men, um sich bei einer Person auszusprechen, die in ihren Augen nicht dem eigentlichen Anstaltspersonal<br />

angehörte. In beiden Fällen standen körperliche <strong>und</strong> psychische Beschwerden, die teilweise erst im Straf-<br />

vollzug aufgetreten waren, im Vordergr<strong>und</strong>. Emil G. bezog sich dabei explizit auf das weit verbreitete<br />

Deutungsmuster der «Nervosität», als er den Wunsch nach einer Behandlung seiner «Nerven» äusserte,<br />

worauf Wyrsch in seinem Bericht allerdings nicht weiter einging. Wie der Fall von Otto Z. verdeutlicht,<br />

beschränkten sich Wyrschs Empfehlungen zuhanden der Anstaltsleitung in solchen Fällen meist auf die<br />

Abgabe von Medikamenten wie Schlaf- oder Beruhigungsmittel sowie auf geringfügige Hafterleichterun-<br />

gen.<br />

Ein vergleichsweise konkretes Ziel verfolgte Alfred M., als er sich freiwillig zur psychiatrischen Sprech-<br />

st<strong>und</strong>e meldete. Er wies Wyrsch gegenüber darauf hin, dass sein Bruder in der Waldau gestorben sei <strong>und</strong><br />

dass er selbst an Schwindel <strong>und</strong> Kopfweh leide. Er sei deswegen in Witzwil schon einmal umgefallen <strong>und</strong><br />

habe aus dem Ohr geblutet. Alfred M. fand, dass er psychiatrische begutachtet werden solle <strong>und</strong> eigentlich<br />

in eine Heilanstalt gehöre. Erst nach längerem Nachhacken erzählte er dem Psychiater, dass er wegen<br />

Wechselfälschung in Untersuchungshaft sitze. Wyrsch bezweifelte in seinem Bericht allerdings, ob bei<br />

Alfred M. eine Geisteskrankheit im engeren Sinn vorliege. Erst nach einer klinischen Beurteilung sei aller-<br />

dings ersichtlich, inwieweit dieser «psychopathisch» <strong>und</strong> dadurch in der Zurechnungsfähigkeit beeinträch-<br />

tigt sei: «Heute kann nur soviel gesagt werden, dass M. als abnormer erscheinen möchte, als er es wohl<br />

tatsächlich ist.» 1615 Bezweckte Alfred M., mit Hilfe des Psychiaters eine nachträgliche Exkulpation oder<br />

zumindest eine Strafmilderung zu erreichen, so wies das Anliegen von Peter L. in die gegenteilige Rich-<br />

tung. Dieser wünschte vielmehr vom Psychiater eine Bestätigung seiner Normalität. Wie Peter L. dem<br />

Psychiater berichtete, habe ihm der Untersuchungsrichter gesagt, er sei «nicht recht bei Trost». Dies lasse<br />

er sich aber nicht gefallen <strong>und</strong> wünsche deshalb, durch ein Gutachten zu beweisen, dass er zurechnungs-<br />

fähig sei. Wyrsch konnte dem Anliegen von Peter L. insofern nachkommen, als er bei der Untersuchung<br />

keine Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit feststellen konnte. 1616 Der Vergleich dieser beiden Fälle ver-<br />

deutlicht beispielhaft das Spektrum, in dem sich die Inanspruchnahme des Sprechst<strong>und</strong>enangebots durch<br />

die Häftlinge bewegte. Häftlinge wie Alfred M. oder Emil G. erhofften sich von der Aneignung medizini-<br />

sche Deutungsmuster eine Erleichterung des Strafvollzugs <strong>und</strong> im Extremfall eine nachträgliche Exkulpa-<br />

1613 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Otto Z. an die Strafanstalt Witzwil, 28. Februar 1948.<br />

1614 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Emil G. an die Strafanstalt Witzwil, 27. Februar 1945.<br />

1615 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Alfred M. an die Strafanstalt Witzwil, 22. Juni 1946.<br />

1616 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Peter L. an die Strafanstalt Witzwil, 6. Dezember 1948.<br />

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