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Psychiatrie und Strafjustiz

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Strafe» glaube, definierte Stooss das Verbrechen in erster Linie als «schuldhafte Handlung», wenngleich er<br />

anerkannte, dass jeder kriminellen Handlung nebst einer «sittlichen Schuld» auch eine «soziale Schuld», das<br />

heisst eine «Verschuldung gegen die Gesellschaft», zugr<strong>und</strong>e liege. 381 Anders als von Liszt sah er zwischen<br />

dem Vergeltungscharakter der Strafe <strong>und</strong> dem kriminalpolitischen Ziel des Rechtsgüterschutzes keinen<br />

Widerspruch; in seinen Augen stand die Vergeltung vielmehr direkt «im Dienste des staatlichen Rechts-<br />

schutzes». 382<br />

Eine pragmatische Strafrechtsreform: Die Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen<br />

Stooss benutzte die Gelegenheit, die ihm der Auftrag des B<strong>und</strong>esrats zur Ausarbeitung eines Vorentwurfs<br />

zu einem Strafgesetzbuch bot, um eine ihm angemessen erscheinende Strafrechtsreform zu präsentieren.<br />

Das Fazit, das er aus den von der Strafrechtsreformbewegung vorangetriebenen Lernprozessen zog, be-<br />

stand in einer Ergänzung des herkömmlichen Schuldstrafrechts um ein System sichernder Massnahmen.<br />

Als weitere, im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter behandelte Reformpostulate sah er den Ersatz<br />

kürzerer Freiheitsstrafen, eine strikte Trennung der verschiedenen Freiheitsstrafen sowie eine Reform des<br />

Bussenwesens vor. Sichernde Massnahmen, wie sie Stooss vorsah, waren zuvor lediglich im Bereich des<br />

kantonalen Verwaltungsrechts, etwa im Zusammenhang mit Einweisungen in Irren- oder Arbeitsanstalten,<br />

zur Anwendung gekommen. Der Vorentwurf, den Stooss im Juni 1893 fertig stellte, integrierte solche<br />

administrative Massnahmen dagegen erstmals ins Strafrecht. 383 Dieses zweispurige System von Strafen <strong>und</strong><br />

Massnahmen erweiterte die Aufgaben der <strong>Strafjustiz</strong> über die Vergeltung begangenen Unrechts hinaus auf<br />

das Gebiet der Verbrechensprävention <strong>und</strong> sollte so eine wirksamere Kriminalitätsbekämpfung erlauben.<br />

Konkret bedeutete dies, dass der Vorentwurf zwar im Regelfall am Vergeltungscharakter der Strafe fest-<br />

hielt, in Bezug auf einzelne Gruppen von DelinquentInnen jedoch die Anwendung «vorbeugender Mass-<br />

nahmen» ins Auge fasste. 384 Als sichernde Massnahmen sah der Vorentwurf namentlich die Verwahrung<br />

von rückfälligen StraftäterInnen (Artikel 23 <strong>und</strong> 40) oder Einweisungen in Arbeits- <strong>und</strong> Trinkerheilanstal-<br />

ten (Artikel 24 <strong>und</strong> 26) vor. Ebenfalls vorgesehen war die Anordnung erzieherischer Massnahmen für<br />

jugendliche DelinquentInnen (Artikel 7). 385 Stooss begründete dieses Massnahmensystem mit der Wir-<br />

kungslosigkeit herkömmlicher Strafen bei bestimmten Gruppen von DelinquentInnen. Sichernde Mass-<br />

nahmen sollten dort zum Zuge kommen, wo sich StraftäterInnen für die Wirkung einer am Verschulden<br />

bemessenen Strafe unempfänglich zeigten <strong>und</strong> nicht von einer erneuten Rechtsgüterverletzung abgehalten<br />

werden konnten: «Wo die Strafe sich nicht nur als unzulänglich, sondern geradezu als unzweckmässig<br />

erwiesen hat, dagegen von vorbeugenden Massnahmen gute Erfolge zu erwarten sind, ersetzt der Entwurf<br />

die Strafe durch präventive Massnahmen.» Davon besonders getroffen werden sollten jugendliche <strong>und</strong><br />

rückfällige DelinquentInnen: «Die Jugendlichen sind für die Wirkung der staatlichen Strafe noch nicht emp-<br />

fänglich, die Rückfälligen sind es nicht mehr.» 386<br />

Konsequenterweise orientierten sich sichernde Massnahmen weniger am individuellen Verschulden als an<br />

kriminalpolitischen Nützlichkeitserwägungen. Die Ablösung des staatlichen Sanktionsanspruchs vom<br />

Schuldprinzip wird insbesondere bei der Verwahrung von «Gewohnheitsverbrechern» deutlich. Im Ein-<br />

klang mit andern Strafrechtsreformern forderte Stooss die «Unschädlichmachung» von StraftäterInnen,<br />

381 Stooss, 1894, 270, 272.<br />

382 Stooss, 1896, 270; Kaenel, 1981, 85f.<br />

383 Vgl. zur Integration administrativer Massnahmen ins Strafrecht: Zürcher, 1892a, 539; VE 1893, 35f.; Stooss, 1896, 285; Expertenkommission,<br />

1893 I, 173 (Artikel 40); Wüst, 1905, 58-67. Zur kriminalpolitischen Konzeption des Vorentwurfs von 1893:<br />

Gauthier, 1994; Gschwend, 1994; Moos, 1988; Kaenel, 1981; Rusca, 1981; Graven, 1951, 228-242.<br />

384 VE 1893, 35f.<br />

385 VE 1893, Artikel 7, 23-26, 40.<br />

386 Stooss, 1894b, 19f. (Hervorhebungen im Original); vgl. Kaenel, 1981, 87, 113, 119.<br />

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