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Psychiatrie und Strafjustiz

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Strafverfahrens <strong>und</strong> des Strafvollzugs über die betreffenden Delinquenten angelegt worden waren. 1600 Wie<br />

bei der Begutachtungstätigkeit vor Gericht lieferten die Psychiater auch in solchen Fällen Gr<strong>und</strong>lagen für<br />

die Entscheide der Behörden. Wie unterschiedlich solche Vollzugsempfehlungen ausfallen konnten, zei-<br />

gen die folgenden beiden Fallbeispiele. Im Fall von Rudolf H. lässt sich der Anlass für die psychiatrische<br />

Untersuchung nicht mehr rekonstruieren. Der aufgr<strong>und</strong> von Artikel 14 des Strafgesetzbuchs Verwahrte<br />

drängte jedenfalls gegenüber dem Psychiater auf seine Entlassung. Aufgr<strong>und</strong> des Sprechst<strong>und</strong>enberichts<br />

lässt sich allerdings vermuten, dass Wyrsch auch von der Anstaltsleitung zur Prüfung einer allfälligen Ent-<br />

lassung veranlasst worden war. Rudolf H. war bereits 1944 im Laufe einer Strafuntersuchung wegen Un-<br />

zucht mit Kindern in der Waldau als «unintelligenter, lügnerischer, moralisch defekter Psychopath» begutachtet<br />

worden. Zur Zeit der Sprechst<strong>und</strong>enkonsultation im Spätherbst 1947 befand er sich wegen Betrugs<br />

im Massnahmenvollzug. Rudolf H. war kurz zuvor aus dem Arbeiterheim Nusshof in die Strafanstalt zu-<br />

rückversetzt worden, nachdem er Geld gestohlen hatte. Dem Sprechst<strong>und</strong>enbericht zufolge benahm sich<br />

Rudolf H. wie «ein kleines Kind, das ein schlechtes Gewissen hat». Er klagte über Mutlosigkeit <strong>und</strong><br />

Schamgefühle <strong>und</strong> machte dem Psychiater den «Vorschlag», bis im Frühling in Witzwil <strong>und</strong> dann ein wei-<br />

teres halbes Jahr im Nusshof zu bleiben. Wyrschs Empfehlung fiel schliesslich äusserst ungünstig aus:<br />

«Die Charakter-Abwegigkeit <strong>und</strong> die Unreife [von] H. sind leider in der Anlage gegeben, wie er jetzt selbst<br />

wieder gezeigt hat. Er wäre heute sicher nicht fähig, sich in der Freiheit zu halten, sondern würde sich<br />

wieder in Betrügereien einlassen, um seiner Geltungssucht frönen zu können. Es bleibt nichts anderes<br />

übrig, als ihn weiterhin auf nicht absehbare Zeit zu verwahren.» 1601 Wesentlich günstiger beurteilte Wyrsch<br />

dagegen Fritz L., einen wegen Fahrraddiebstahls verurteilten Velohändler. Ihm attestierte der Psychiater,<br />

er sei an sich «gutwillig» <strong>und</strong> «solide». Die von Fritz L. gefassten Vorsätze erschienen ihm ebenfalls als<br />

glaubwürdig. Zu den Diebstählen sei es lediglich dadurch gekommen, weil dieser leicht zu verführen sei.<br />

Wyrsch sah in Fritz L. weder einen «Psychopathen», noch einen Geisteskranken. Er empfahl deshalb dessen<br />

Entlassung: «Die Strafe scheint auch in diesem Fall gut gewirkt zu haben, so dass, soweit ich beurtei-<br />

len kann, keine Bedenken gegen eine vorzeitige Entlassung bestehen.» 1602<br />

Ein Vergleich dieser beiden Fälle verdeutlicht einmal mehr das in Kapitel 7 festgestellte Strukturmerkmal<br />

des Psychopathiediskurses, abweichendes Verhalten in die Persönlichkeitsstruktur von ExplorandInnen<br />

«einzupflanzen». Die Annahme einer anlagebedingten Unveränderlichkeit erlaubte dem Psychiater die<br />

Prognose, dass sich Rudolf H. auch in Zukunft gemäss seiner «Charakter-Abwegigkeiten» verhalten würde.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Prognose liess sich – im Gegensatz zu dem nicht für «psychopathisch» bef<strong>und</strong>enen<br />

Fritz L. – die Opportunität einer Entlassung verneinen. In vielen Fällen machte Wyrsch eine Entlassung<br />

zudem von Bedingungen abhängig. Er schlug beispielsweise vor, dass die Entlassenen von der Schutzauf-<br />

sicht überwacht werden sollten, oder wollte sie zu einer ambulanten Behandlung verpflichten. So empfahl<br />

Wyrsch gegenüber dem wegen Betrug verurteilten <strong>und</strong> nach eigenen Angaben homosexuellen Gottfried B.<br />

eine Unterstellung unter die Schutzaufsicht. 1603 Im Fall des wegen Sexualdelikten verurteilten Eduard W.,<br />

der sich freiwillig einer Kastration unterzogen hatte, machte Wyrsch eine Nachuntersuchung in der Heil-<br />

<strong>und</strong> Pflegeanstalt Münsingen zur Bedingung für eine Entlassung. 1604 Den Sprechst<strong>und</strong>enpsychiatern kam<br />

durch die Kompetenz, Empfehlungen über die Aufhebung oder Weiterführung von Strafen <strong>und</strong> Mass-<br />

nahmen abzugeben, ein beträchtliches Machtpotential zu. Sie lieferten der Anstaltsleitung <strong>und</strong> den Voll-<br />

zugsbehörden wissenschaftlich legitimierte Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> verfügten so über grossen Ein-<br />

1600 Wyrsch, 1947, 6-13.<br />

1601 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Rudolf H. an die Strafanstalt Witzwil, 15. Dezember 1947.<br />

1602 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Fritz L. an die Strafanstalt Witzwil, 13. Februar 1946.<br />

1603 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Gottfried B. an die Strafanstalt Witzwil, 22. Mai 1948<br />

1604 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Eduard W. an die Strafanstalt Witzwil, 22. September 1947.<br />

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