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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Stabilisierung der neuen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens im Konzept der «Psychopa-<br />

thische Persönlichkeiten»<br />

Der Begriff der «psychopathischen Konstitution» stellte sowohl für Kraepelin, als auch für Aschaffenburg<br />

einen zentralen Bezugspunkt dar, wenn es um die Erklärung kriminellen Verhaltens ging. In der Tat avan-<br />

cierte das Konzept der «psychopathischen Persönlichkeit» um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende zum wichtigsten<br />

Deutungsmuster kriminellen Verhaltens in der deutschsprachigen <strong>Psychiatrie</strong>. 269 Das Psychopathiekonzept<br />

erwies sich bis in die 1950er Jahre als erstaunlich stabil, was im Gegenzug zur Folge hatte, dass alternative,<br />

etwa psychoanalytisch ausgerichtete Deutungsmuster im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> kaum<br />

Durchsetzungschancen hatten. 270 Das Psychopathiekonzept verlängerte das Vererbungsparadigma der<br />

Degenerationstheorie letztlich ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein. Gleichzeitig vermochte es, die seit den 1860er<br />

Jahre unternommenen Bestrebungen, kriminelles Verhalten auf endogene Ursachen zurückzuführen, <strong>und</strong><br />

namentlich Kraepelins Auffassung des «geborenen Verbrechers» konzeptuell zu integrieren. In Anlehnung<br />

an die neuere Wissenschaftsforschung kann die Etablierung des Psychopathiekonzepts in der psychiatri-<br />

schen Krankheitslehre in der forensisch-psychiatrischen Praxis als «Stabilisierung» bezeichnet werden.<br />

Wissenschaftssoziologen <strong>und</strong> -historiker wie Andrew Pickering oder Peter Galison verstehen darunter<br />

jene Prozesse, in deren Verlauf sich eine Kongruenz von theoretischen Erwartungen <strong>und</strong> (experimentel-<br />

len) Beobachtungen herauskristallisieren <strong>und</strong> alternative Erklärungsansätze für ein Phänomen ausge-<br />

schlossen oder integriert werden. 271 Das Psychopathiekonzept stabilisierte die im Anschluss an die Dege-<br />

nerationstheorie <strong>und</strong> die Kriminalanthropologie entstandenen Deutungsmuster kriminellen Verhaltens<br />

insofern, als es anlage- <strong>und</strong> umweltbedingte Erklärungsansätze zu synthetisieren <strong>und</strong> unterschiedliche<br />

Auffassungen über einzelne Verbrechertypen zu integrieren vermochte. Wie die Ausführungen im 2. Teil<br />

dieser Untersuchung zeigen, erlangte das Psychopathiekonzept rasch Verbreitung in der Justizpraxis. Die<br />

im Gegensatz zu den umstrittenen kriminalanthropologischen Verbrechertypologien hohe Praxisrelevanz<br />

des Psychopathiekonzepts weist darauf hin, dass die Stabilisierung kriminalitätsspezifischer Deutungsmus-<br />

ter wesentlich von ihrer Akzeptanz <strong>und</strong> Plausibilität in einem juristischen Kontext abhing. Der folgende<br />

Abschnitt untersucht die konzeptuelle Stabilisierung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung des Psychopathiekonzepts<br />

im deutschsprachigen Raum am Beispiel der zwischen 1883 <strong>und</strong> 1915 erschienenen Auflagen von Emil<br />

Kraepelins <strong>Psychiatrie</strong>lehrbuch, das die deutschsprachige <strong>Psychiatrie</strong> in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

massgeblich prägte. Im Vordergr<strong>und</strong> steht zunächst die konzeptuelle Ausdifferenzierung seit den<br />

1890er Jahren. Im Anschluss daran wird zu analysieren sein, wie sich die Stabilisierung des Psychopathie-<br />

konzepts in einer diskursiven Matrix niederschlug, die dem Konzept Kohärenz <strong>und</strong> Plausibilität verlieh.<br />

Deutschsprachige Psychiater wie Krafft-Ebing bedienten sich seit den 1870er Jahren regelmässig des Ad-<br />

jektivs «psychopathisch» zur Bezeichnung von Erbanlagen, auf die sich eine Vielzahl unspezifischer psy-<br />

chischer Störungen zurückführen liess. Auf die Bedeutung dieser meist leichteren Störungen für die <strong>Psychiatrie</strong><br />

wies vor allem der Württemberger Psychiater August Julius Koch hin, als er 1888 in seinem Leitfa-<br />

den der <strong>Psychiatrie</strong> deren Systematisierung unter dem Begriff der «psychopathischen Minderwertigkeit» vor-<br />

schlug. Koch verstand darunter solche «psychische Abnormitäten [...], welche auch in schlimmen Fällen<br />

noch nicht eigentliche Geisteskrankheiten konstituieren, aber die betreffenden Individuen wegen einer<br />

abnormen, minderwertigen Konstitution ihrer Gehirne auch im günstigsten Fall nicht als im Vollbesitz<br />

269 Vgl. Debuyst, 1998, 456-481; Sass/Herpertz/Ernst, 1995, 637-640; Schmiedebach, 1985; Werlinder, 1978, 86-100; Güse/Schmacke,<br />

1976 II, 266-321.<br />

270 Vgl. Moser, 1971.<br />

271 Vgl. Heintz, 1993, 544; Lenoir, 1992, 188-190, 200; Fleck, 1980, 104, 135f. Auf die Relevanz des Stabilisierungsansatz für die<br />

<strong>Psychiatrie</strong>geschichte verweist Lengwiler, 2000, 40-43.<br />

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