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Psychiatrie und Strafjustiz

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setzbuch ein willkommenes Mittel zur nationalen <strong>und</strong> sozialen Integration. 1484 Auch Maiers Walliser Kol-<br />

lege André Repond (1886–1973) sah im neuen Strafrecht eine Kulturleistung <strong>und</strong> einen sozialen Fort-<br />

schritt: «Notre code pénal suisse est le produit d’une civilisation et d’une culture ancienne; il est l’interprète<br />

d’une moralité séculaire, d’une conception de l’existence qui nous est propre, d’un idéal humanitaire et<br />

pacifique des droits et devoirs de l’homme, d’une croyance sincère dans la noblesse de l’âme et dans la<br />

possibilité d’améliorer l’individu comme la société par des institutions». 1485 Ausgeprägter als Maier berief<br />

sich Repond auf eine spezifisch schweizerische Tradition, die dem neuen Gesetz zu Gr<strong>und</strong>e liege, <strong>und</strong><br />

knüpfte dabei an die bereits im Rahmen der Parlamentsdebatten <strong>und</strong> im Abstimmungskampf von den<br />

Befürwortern des Strafgesetzbuchs bemühte Gemeinschaftssemantik der «Geistigen Landesverteidigung»<br />

an. 1486 Die Berufung auf Eigenständigkeit <strong>und</strong> Humanität verband Repond mit dem Bekenntnis zu einer<br />

regulativen Kriminalpolitik. Für Repond bedeutete das Strafgesetzbuch in erster Linie ein effizientes Mittel<br />

zu einer Kriminalitätsprophylaxe, deren Ziel die Verhinderung des Rückfalls durch bessernde <strong>und</strong> erzie-<br />

hende Massnahmen sei. 1487<br />

Viele Schweizer Psychiater waren sich bewusst, dass die Verwirklichung der von ihrer Disziplin seit lan-<br />

gem angestrebten Strafrechtsreform Rückkoppelungseffekte auf die forensisch-psychiatrische Praxis haben<br />

würde. So stellte der Basler Psychiater Dukor eine Ausweitung des forensisch-psychiatrischen Tätig-<br />

keitsbereichs auf das Gebiet der sichernden Massnahmen fest. 1488 In den Augen vieler Psychiater markier-<br />

te das neue Massnahmenrecht in der Tat einen entscheidenden kriminalpolitischen Fortschritt. Der Basler<br />

Psychiater Hans Binder (1899–1989) bezeichnete die sichernden Massnahmen sogar als den «Angelpunkt<br />

der Strafrechtsreform». 1489 Auch Max Müller erging sich in eine Mischung aus staatsbürgerlichen Loyalität<br />

<strong>und</strong> standespolitischer Interessewahrung, als er auf der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong><br />

dazu aufrief, «hier zuzugreifen du unser bestes beizutragen, damit das StrG unbeschadet aller darin enthal-<br />

tenen Kompromissen, wirklich vom Geist seiner Schöpfer erfüllt wird <strong>und</strong> seine praktischen Möglichkei-<br />

ten voll ausgenützt werden» <strong>und</strong> seine Fachkollegen zur «freudigen <strong>und</strong> positiven Mitarbeit» am neuen<br />

Gesetz aufforderte. 1490<br />

Führende Schweizer Psychiater räumten nun freimütig ein, dass das neue Strafgesetzbuch auf einem kri-<br />

minalpolitischen Kompromiss beruhte, der die ursprünglichen Postulate der Disziplin für eine weitgehen-<br />

de Medikalisierung des Strafrechts nur mit grossen Abstrichen verwirklichte. Für die meisten Psychiater<br />

fiel dies angesichts des seit den 1890er Jahren gewandelten Umfelds <strong>und</strong> der endlich realisierten Rechts-<br />

einheit nicht allzu sehr ins Gewicht. Im Allgemeinen wurden die kriminalpolitischen Kompromisse, wie<br />

sie Eingang ins Gesetz gef<strong>und</strong>en hatten, begrüsst. So bekannte beispielsweise Binder: «Die moderne Psy-<br />

chiatrie erhebt also keinen Einspruch mehr dagegen, wenn in unserem neuen Strafgesetzbuch das Schuld-<br />

prinzip eine so grosse Rolle spielt. Die <strong>Psychiatrie</strong> weiss wieder, dass nur dies dem wirklichen Wesen des<br />

Menschen entspricht <strong>und</strong> dass sie sich auf einem theoretischen Irrweg bef<strong>und</strong>en hat, wenn sie eine Zeit-<br />

lang meinte, das seelische Leben nach jenen mechanischen Kausalgesetzen erklären zu können, die man<br />

aus dem Verhalten toter Körper abgeleitet hat.» 1491 Auch Manfred Bleuler (1903–1994) erteilte vor der<br />

Kriminalistischen Gesellschaft dem traditionellen Streit um die Willensfreiheit eine Absage, als er verkündete:<br />

1484 Maier, 1943, 155.<br />

1485 Repond, 1943, 146.<br />

1486 Zur Gemeinschaftssemantik der «Geistigen Landesverteidigung»: Imhof, 1996. Zur Rezeption der «Geistigen Landesverteidigung»<br />

innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong>: Ritter, 2000.<br />

1487 Repond, 1944, 194.<br />

1488 Dukor, 1946, 197.<br />

1489 Binder, 1943, 34.<br />

1490 SLB V CH 2574, Protokoll der Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1944, 4f.<br />

1491 Binder, 1943, 32.<br />

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