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Psychiatrie und Strafjustiz

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gefährlich oder gänzlich hilflos sei». 1122 Dadurch, dass das Reglement auch bei Aufnahmen auf «polizeili-<br />

chem Wege» ein ärztliches Zeugnis verlangte, bewahrte es den medizinischen Charakter der Einweisung,<br />

obwohl diese nicht zum Zweck der Heilung sondern der Verwahrung erfolgte. Die medizinische Logik<br />

erlaubte den Verwaltungsbehörden, geistesgestörte Personen, die kein Delikt begangen hatten, von denen<br />

aber eine «Gefahr» für die öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung zu erwarten war, gegen ihren Willen in eine<br />

Irrenanstalt einzuweisen. Indem solchen freiheitsentziehenden Massnahmen kein Strafcharakter zugebilligt<br />

wurde, schien es gerechtfertigt, von einer formellen Einweisung durch ein Gericht abzusehen.<br />

Das Reglement von 1855 legte die Gr<strong>und</strong>lage für die Aufnahmepraxis in den folgenden Jahrzehnten. Das<br />

Anstaltsdekret von 1894, welches bis 1936 in Kraft bleiben sollte, regelte die Einweisung von Amts wegen<br />

nur beiläufig. Gemäss diesem Dekret konnten die «zuständigen Behörden» direkt Anträge zur Aufnahme<br />

in eine Irrenanstalt stellen. Eine nähere Bezeichnung dieser Behörden fehlte allerdings. Zusätzlich beizu-<br />

bringen war ein Arztzeugnis. 1123 Bereits 1900 schlug die Berner Regierung dem Grossen Rat ein revidiertes<br />

Dekret vor, das diese Aufnahmebestimmungen präzisieren sollte. Die Vorlage gewährte dem Regierungs-<br />

rat, der Polizei- <strong>und</strong> Armendirektion, den Regierungsstatthaltern, den Gerichtsbehörden <strong>und</strong> den Untersuchungsrichtern<br />

die Kompetenz, Begehren auf Einweisung in eine Irrenanstalt zu stellen. Ein ärztliches<br />

Zeugnis wurde nun, wie es noch 1894 der Fall gewesen war, nicht mehr verlangt. 1124 Das Dekret von 1894<br />

<strong>und</strong> der Entwurf von 1900 rekurrierten nicht direkt auf den Begriff der «Gemeingefährlichkeit», dieser<br />

wurde aber in der Praxis weiterhin vorausgesetzt. 1125 Ganz im Zeichen der um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende ver-<br />

breiteten <strong>Psychiatrie</strong>kritik beanstandeten verschiedene Grossräte, dass diese Aufnahmebestimmungen den<br />

Behörden einen kaum zu kontrollierenden Ermessensspielraum zugestanden. Sie verlangen zusätzliche<br />

Garantien gegen eine «willkürliche Versorgung» in Irrenanstalten <strong>und</strong> eine gesetzliche Verankerung präzi-<br />

ser Aufnahmekriterien. 1126 Diese Bedenken brachten die Vorlage der Regierung schliesslich ein Jahr später<br />

zu Fall. Dies hatte zur Folge, dass das Dekret von 1894 weitere drei Jahrzehnte in Kraft blieb. 1127<br />

Bei der Analyse dieser Einweisungsbestimmungen werden drei Aspekte deutlich, die für die administrativ-<br />

rechtliche Praxis im Kanton Bern bezeichnend waren. Erstens die Unschärfe der anzuwendenden Krite-<br />

rien, zweitens die explizite oder implizite Berufung auf die «öffentliche Sicherheit», <strong>und</strong> drittens den gros-<br />

sen Ermessensspielraum der zuständigen Behörden. Diese drei Aspekte bestimmten auch massgeblich die<br />

Entwicklung des Armenpolizeirechts. Die Armenpolizei stand einerseits in engem Zusammenhang mit der<br />

jeweiligen Armengesetzgebung, sollte sie doch Missbräuche im Unterstützungswesen verhindern. 1128 An-<br />

dererseits schrieb sie die Tradition der Bettelverordnungen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts fort, deren Ziel die Be-<br />

kämpfung der «unwürdigen», das heisst arbeitsfähigen Armen <strong>und</strong> Bettler sowie der umherziehenden «Va-<br />

gab<strong>und</strong>en» gewesen war. Die Geburtsst<strong>und</strong>e der modernen Berner Armenpolizei schlug in der Versor-<br />

gungskrise von 1847/48. In dieser Krise manifestierte sich die Unfähigkeit des liberalen Staats, mit dem<br />

Auftreten der neuen Massenarmut in der Form des «Pauperismus» fertig zu werden. Folge dieser Krise<br />

war eine wachsende Angst des Bürgertums vor der Bedrohung der eben erst erkämpften politischen <strong>und</strong><br />

gesellschaftlichen Ordnung. Im Bereich des öffentlichen Rechts schlug sich diese materielle <strong>und</strong> mentale<br />

Krise unter anderem in einer Verwischung der Grenzen zwischen Armenpolizei- <strong>und</strong> Strafrecht nieder.<br />

1122 SLB VBE 4862: Organisationsreglement 1855, Artikel 40.<br />

1123 SLB VBE 4862: Dekret über die Organisation der kantonalen Irrenanstalten 1894, Artikel 26.<br />

1124 TBGR, 1900, Beilage 33, Artikel 26.<br />

1125 Vgl. Schwengeler, 1999, 53-55.<br />

1126 TBGR, 1900, 491-497.<br />

1127 Krapf/Malinverni/Sabbioni, 1978, 147f.<br />

1128 Zur Armengesetzgebung- <strong>und</strong> -politik im Kantons Bern: Flückiger Strebel, 2000; Wiedmer, 1993; Ludi, 1975; Geiser, 1894,<br />

292-520.<br />

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