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Psychiatrie und Strafjustiz

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sen worden, dass die Forderung nach einer «anderen» Bestrafung vermindert zurechnungsfähiger Delin-<br />

quentInnen zum Kern der Reformanliegen gehörte. So sahen die Vorschläge der Schweizer Irrenärzte <strong>und</strong><br />

die verschiedenen Vorentwürfe zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch auch sichernde Massnahmen<br />

gegen vermindert zurechnungsfähige Straftäter vor. Eine genaue Analyse zeigt allerdings, dass sich die<br />

Berner Regierung bei ihrer Praxisänderung nicht explizit auf die laufende Strafrechtsdebatte bezog. Ihr<br />

Entscheid entwickelte sich vielmehr aus der Praxis der sichernden Massnahmen heraus <strong>und</strong> folgte einer<br />

analogen Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Handlungslogik, wie sie im Aufbau des beschriebenen administrativrechtli-<br />

chen Dispositivs zum Ausdruck kam. Eine ausführliche Rekonstruktion <strong>und</strong> Analyse der Entscheidungsprozesse,<br />

die zur Praxisänderung von 1908 führten, rechtfertigt sich aus zwei Gründen. Zum einen wird<br />

darin das gr<strong>und</strong>sätzliche Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsschutz <strong>und</strong> Individualrechten deutlich, in<br />

dem sich eine Kriminalpolitik bewegen musste, die sich sichernder Massnahmen bedienen wollte. Zum<br />

andern lassen sich anhand dieser Praxisänderung beispielhaft die institutionellen Mechanismen <strong>und</strong> Deu-<br />

tungsmuster aufzeigen, die zu einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens mittels sichernder Massnah-<br />

men führen konnten.<br />

Die Ablehnung des ersten Antrags<br />

Der 37jährige Coiffeur Ernst S. stand im Februar 1904 wegen «gewaltsamen Angriffs auf die Schamhaftig-<br />

keit» gegenüber drei männlichen Jugendlichen vor dem Korrektionsgericht Bern. Ernst S. war bereits 1901<br />

wegen einem ähnlichen Vergehen psychiatrisch begutachtet <strong>und</strong> mangels Zurechnungsfähigkeit freige-<br />

sprochen worden. Dies bewog den Untersuchungsrichter, erneut ein psychiatrisches Gutachten einzuholen.<br />

Die beiden Sachverständigen aus Münsingen kamen in ihrem Gutachten zum Schluss, dass Ernst S.<br />

zur Zeit der Tat weder geisteskrank, noch vollständig unzurechnungsfähig gewesen sei. Dagegen sei er<br />

«ein hereditär belasteter, krankhaft veranlagter Mensch, ein Dégénéré supérieur, ein Psychopath. Als sol-<br />

cher hat er ohne sein Verschulden verbrecherischen Trieben gegenüber eine krankhaft geminderte Wider-<br />

standskraft, ist daher auch nur als gemindert zurechnungsfähig zu betrachten.» Sie bezeichneten ihn auf-<br />

gr<strong>und</strong> seiner «moralischen Verkommenheit» <strong>und</strong> «Abgestumpftheit» als «gemeingefährlich». Obwohl sie<br />

Ernst S. nur als vermindert zurechnungsfähig beurteilten, hielten die beiden Experten eine Versetzung<br />

«auf unbestimmte Zeit in eine Verwahrungsanstalt, in welcher er zu regelmässiger Arbeit angehalten, nöti-<br />

genfalls sogar gezwungen werden könnte, [für] das einzige Mittel, das vielleicht im Laufe der Jahre noch<br />

einen brauchbaren, ungefährlichen Menschen aus S. zu machen im Stande wäre». 1162 Die Empfehlung der<br />

Psychiater erschien sowohl dem zuständigen Staatsanwalt, als auch dem Gericht als plausibel. Das Korrek-<br />

tionsgericht, das Ernst S. für vermindert zurechnungsfähig <strong>und</strong> für «gemeingefährlich» befand, beantragte<br />

denn auch sichernde Massnahmen. Daneben wurde Ernst S. bei Zubilligung einer Strafmilderung zu fünf<br />

Monaten Korrektionshaus verurteilt. 1163<br />

Ernst S. war sich der Konsequenzen dieses Antrags sehr wohl bewusst. Aus der Untersuchungshaft wand-<br />

te er sich mit einem Brief an den Regierungsrat, um gegen eine allfällige Massnahme zu protestieren: «[…]<br />

gegen den Beschluss für Internierung in einer Irrenanstalt nach der Strafe muss ich protestieren. Wenn ich<br />

etwas getan habe, wofür ich bestraft werden kann, so muss ich das annehmen wie ein anderer auch; je-<br />

doch glaube ich, wenn man mich straft <strong>und</strong> zwar verhältnismässig nach hart, so habe ich auch wieder<br />

einen Anspruch auf die Freiheit. [...] Ich wusste, [dass] das eine oder andere geschehen würde, entweder<br />

Verbringung in eine Anstalt oder Strafe, aber dass für beides beantragt werde, glaubte ich nicht.» 1164 Ernst<br />

1162 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Psychiatrisches Gutachten über Ernst S.,2. Februar 1904.<br />

1163 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Urteil vom 27. Februar 1904.<br />

1164 StAB BB 4.1, Band 428, Schreiben Ernst S. an den Regierungsrat, 3. März 1904.<br />

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