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Psychiatrie und Strafjustiz

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hender Konsens, dass für die Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der <strong>Psychiatrie</strong> Umgang <strong>und</strong> Einstellung der<br />

bürgerlichen Gesellschaft gegenüber den «Irren» von zentraler Bedeutung waren. Dies gilt in einem noch<br />

höheren Grade für die Einbindung der <strong>Psychiatrie</strong> in die justizielle Bewältigung kriminellen Verhaltens. 81<br />

Das Disziplinenkonzept ist demnach im Sinn einer kontingenten Wechselwirkung von systeminternen <strong>und</strong> system-<br />

übergreifenden Ausdifferenzierungsmechanismen zu modifizieren. Anstösse für kognitive <strong>und</strong> institutionelle Aus-<br />

differenzierungsprozesse können demnach sowohl durch (Kommunikations-)Ereignisse in der System-<br />

umwelt, als auch innerhalb der Disziplin selbst erfolgen. Gleichzeitig vermag die Disziplin über strukturel-<br />

le Koppelungen Ausdifferenzierungsprozesse in der Systemumwelt zu beeinflussen. 82 In forschungspraktischer<br />

Hinsicht ergibt sich aus diesen Ausführungen die Konsequenz, disziplinäre Lern- <strong>und</strong> Ausdifferenzie-<br />

rungsprozesse nicht von vornherein unter dem Aspekt eines intentionalen professional project zu subsumieren,<br />

sondern das Augenmerk auf die Perzeption, Problematisierung <strong>und</strong> Bearbeitung spezifischer gesellschaftlicher Problem-<br />

lagen durch die psychiatrische Disziplin <strong>und</strong> systemübergreifende Vernetzungsprozesse in Form struktureller Koppe-<br />

lungen zu richten. Dies soll in der vorliegenden Untersuchung am Beispiel der komplexen Beziehungen<br />

zwischen der <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> der <strong>Strafjustiz</strong> geschehen.<br />

Fazit: Strukturelle Koppelung, Medikalisierung <strong>und</strong> disziplinäre Ausdifferenzierung<br />

Die Ansätze der strukturellen Koppelung, der Medikalisierung <strong>und</strong> der disziplinären Ausdifferenzierung erlauben es, ein<br />

heuristisches Raster aufzuspannen, mit dem sich die «unendliche Mannigfaltigkeit» (Max Weber) des vor-<br />

liegenden Untersuchungsgegenstands analytisch erfassen lässt. 83 Einerseits werden die Beziehungen zwischen<br />

den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> als eine Form der strukturellen Koppelung modelliert, welche ein<br />

soziales Praxisfeld auszudifferenzieren vermag, das seinerseits durch verschiedene Regelkomplexe <strong>und</strong><br />

Handlungsmuster konditioniert ist. Andererseits ermöglichen Medikalisierungs- <strong>und</strong> Ausdifferenzierungs-<br />

ansätze, die komplexe Entwicklungsdynamik des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds zu rekonstruieren.<br />

Alle drei Ansätze dienen dazu, der Logik einer arbeitsteiligen Praxis der Kriminalitätsbewältigung auf die Spur zu<br />

kommen, deren Herausbildung für moderne Gesellschaften typisch ist. Kennzeichen dieser Logik ist zum<br />

einen ihre Abhängigkeit von konkreten Problemlagen <strong>und</strong> situativen Konstellationen, die sich nicht auf gleichsam<br />

teleologische Entwicklungstrends reduzieren lassen. Zum andern aber ist eine Kriminalitätsbewältigung<br />

durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> Bestandteil gesellschaftlicher Sinnproduktion. «Kriminalität», «Geisteskrankheit»<br />

<strong>und</strong> «Abnormität» sind Ergebnisse sozialer Zuschreibungs- <strong>und</strong> Aushandlungsprozesse, deren Verlauf <strong>und</strong><br />

Ausgang nicht nur von gesellschaftlichen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Normalitätsdispositiven, sondern auch<br />

vom (kommunikativen) Handeln der beteiligten Instanzen <strong>und</strong> AkteurInnen abhängen.<br />

1.3 Forschungsstand <strong>und</strong> Quellenübersicht<br />

Die schweizerische Geschichtswissenschaft hat die Geschichte der <strong>Psychiatrie</strong> vergleichsweise spät ent-<br />

deckt. Wichtige Anstösse dazu gingen von einer Mitte der 1990er Jahren einsetzenden Debatte über die<br />

Rolle eugenischer Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster in der kantonalen <strong>und</strong> kommunalen Fürsorgepolitik aus.<br />

Demgegenüber hat die schweizerische Forschung die seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zunehmende Inan-<br />

spruchnahme psychiatrischer Deutungsmuster sowie Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten in der<br />

Strafrechtspflege erst ansatzweise ins Blickfeld genommen. Angesichts dieser Forschungslücke ist für die<br />

vorliegende Untersuchung der Rückgriff auf Forschungsarbeiten aus dem deutschen, französischen <strong>und</strong><br />

angelsächsischen Sprachraum unverzichtbar. Dass die sich dabei ergebenden historiographischen Anknüp-<br />

81 Vgl. Dörner, 1995; Kaufmann, 1995; Castel, 1979.<br />

82 In systemtheoretischer Perspektive entscheidend ist dabei, dass solche Umweltkontakte die operative Geschlossenheit der<br />

beteiligten Subsysteme nicht zu tangieren vermögen.<br />

83 Weber, 1988, 177.<br />

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