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Psychiatrie und Strafjustiz

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nutzen vermochten. Ebenfalls eine deutliche Asymmetrie zeigt sich in Bezug auf das «Geschlecht» der<br />

beteiligten AkteurInnen. Richter, Geschworene, Staatsanwälte <strong>und</strong> Verteidiger waren im Untersuchungs-<br />

zeitraum allesamt Männer. Straftäterinnen hatten sich im Gegensatz zu Straftätern nicht nur von Vertre-<br />

tern des andern Geschlechts begutachten zu lassen, sondern sich auch ausschliesslich vor Männer zu ver-<br />

antworten. 1069 Die psychiatrischen Sachverständigen waren an solchen Aushandlungsprozessen insofern<br />

beteiligt, als sie ihre Gutachten vor den Geschworenen, die über keine Aktenkenntnis verfügten, zu erlä u-<br />

tern hatten. Dies erlaubte ihnen gegebenenfalls, einzelne Aussagen der Gutachten zu akzentuieren. In<br />

Fällen, wo das Strafverfahren bereits in der Phase der Voruntersuchung eingestellt wurde, verfügten die<br />

Psychiater dagegen kaum über Möglichkeiten, über ihre schriftlichen Gutachten hinaus Einfluss auf die<br />

Entscheidfindung zu nehmen. Nicht die psychiatrischen Sachverständigen, sondern der Ausgang solcher<br />

fallweiser Aushandlungsverfahren entschied letztlich über die Anschlussfähigkeit psychiatrischer Deu-<br />

tungsversuche in der <strong>Strafjustiz</strong>. Die Analyse solcher Verhandlungskonstellationen macht nicht nur die<br />

unterschiedlichen Handlungskompetenzen der beteiligten AkteurInnen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen sozia-<br />

len Machtbeziehungen sichtbar, sondern gibt auch Hinweise darauf, über welche institutionellen Mecha-<br />

nismen Medikalisierungspostulate Eingang in justizielle Entscheidungen fanden. Die Rekonstruktion sol-<br />

cher Aneignungsprozesse erlaubt somit, das Funktionieren einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung<br />

im Justizalltag nachzuvollziehen.<br />

Was die Behandlung psychiatrischer Gutachten durch die Justizbehörden anbelangt, sind im Folgenden<br />

zwei Selektionsstufen zu unterscheiden, als deren Folge sich grob zwei verschiedene Fallmuster ausmachen lassen.<br />

Diese unterschieden sich nicht nur hinsichtlich des Stellenwerts, den psychiatrische Gutachten für die<br />

Justizbehörden erlangten, sondern auch im Hinblick auf die Einflussmöglichkeiten der betroffenen Delin-<br />

quentInnen. Wie in Kapitel 5.1 erwähnt worden ist, erlaubte das Berner Strafverfahren den Untersu-<br />

chungs- <strong>und</strong> Anklagebehörden zum einen ein laufendes Strafverfahren aufgr<strong>und</strong> eines psychiatrischen<br />

Gutachtens einzustellen. In solchen Fällen kam es gar nicht erst zu einer ordentlichen Gerichtsverhand-<br />

lung. Meist beantragten die Justizbehörden zusätzlich beim Regierungsrat sichernde Massnahmen auf-<br />

gr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs. Das Gutheissen solcher Anträge bedeutete für die betroffe-<br />

nen DelinquentInnen, dass sie direkt aus der Untersuchungshaft in eine Irrenanstalt versetzt wurden, re-<br />

spektive nach der Begutachtung in einer solchen verblieben. Im andern Fall überwiesen die Anklagebehörden<br />

die Untersuchungsakten zusammen mit der Anklageschrift dem zuständigen Gericht, wodurch es<br />

zu einer ordentlichen Hauptverhandlung kam. Im Fall der Geschworenengerichte entschieden in solchen<br />

Fällen die Geschworenen über die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der Kriminalkammer oblag es, allen-<br />

falls sichernde Massnahmen beim Regierungsrat zu verlangen. Zu unterscheiden sind in diesem Zusam-<br />

menhang konsensuale Verhandlungskonstellationen <strong>und</strong> Fälle, in denen psychiatrische Gutachten zum<br />

Gegenstand von Konflikten zwischen den beteiligten Prozessparteien wurden.<br />

Verfahrenseinstellungen aufgr<strong>und</strong> psychiatrischer Gutachten<br />

In Kapitel 5.1 ist darauf hingewiesen worden, dass die Berner Justizbehörden für sich die Kompetenz in<br />

Anspruch nahmen, Strafverfahren aufgr<strong>und</strong> psychiatrischer Gutachten einzustellen, welche auf vollständi-<br />

ge Unzurechnungsfähigkeit lauteten. Die Strafverfolgungsbehörden stellten zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920<br />

nachweislich knapp ein Drittel aller Verfahren, in denen die Angeschuldigten begutachtet worden waren,<br />

wegen mangelnder Schuldfähigkeit ein. Wie in Kapitel 8 ausführlich diskutiert werden soll, bedeutete dies<br />

1069 Diese asymmetrische Geschlechterverteilung hatte die Brandstifterin Elisabeth Z. vor Augen, als sie sich dagegen sträubte,<br />

ausschliesslich vor männlichen Geschworenen über ihre Menstruation befragt zu werden; StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80,<br />

Psychiatrisches Gutachten über Elisabeth Z., 26. August 1904.<br />

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