13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

dürftig waren. Er beharrte denn auch explizit auf dem Unterschied zwischen «Gewohnheitsverbrechern»<br />

<strong>und</strong> psychisch gestörten DelinquentInnen: «Als Gewohnheitsverbrecher darf nur ein Zurechnungsfähiger<br />

verwahrt werden; war ein Gewohnheitsverbrecher zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig, so ist er freizu-<br />

sprechen <strong>und</strong> nicht zu Verwahrung zu verurteilen. Demgemäss sind die Verwahrten als Verbrecher, die<br />

Irren als Kranke zu behandeln.» 394 Mit dieser subtilen Unterscheidung setzte Stooss einer weitergehenden<br />

Medikalisierung, wie sie von den Kriminalanthropologen <strong>und</strong> einzelnen Psychiatern gefordert wurde, eine<br />

Grenze. 395<br />

Die kriminalpolitischen Neuerungen des Vorentwurfs von 1893 stiessen in der internationalen Fachwelt<br />

auf beträchtliches Interesse. Bereits im Herbst 1893 unterzog von Liszt den Entwurf einer eingehenden<br />

Kritik. Auch wenn er Stooss vorhielt, im Hinblick auf die Reformpostulate Kompromisse eingegangen zu<br />

sein, bezeichnete er die Verbindung von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen dennoch als «bahnbrechend». Im so<br />

genannten «Gegenentwurfs» zu einem neuen Reichsstrafgesetzbuch von 1911 sollte von Liszt schliesslich<br />

selbst auf die von Stooss begründete Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen zurückgreifen. 396 In<br />

der Schweiz gab der Vorentwurf in den 1890er Jahren Anlass zu einem «Schulenstreit», dessen Ausgang<br />

die Gr<strong>und</strong>züge der Strafrechtsreform jedoch kaum zu beeinträchtigen vermochten, so dass der b<strong>und</strong>esrät-<br />

liche Botschaftsentwurf von 1918 an der Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen festhielt. 397<br />

Die Gegner des Vorentwurfs stiessen sich vor allem an der Übertragung administrativer Kompetenzen an<br />

die <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> an der damit verb<strong>und</strong>enen teilweisen Preisgabe des Vergeltungsgedankens. Heinrich<br />

Pfenninger beharrte 1892 auf dem Juristentag auf einer strikten Trennung von Strafen <strong>und</strong> Massregeln, da<br />

die einen aufgr<strong>und</strong> des Verschuldens, die andern dagegen aufgr<strong>und</strong> des staatlichen Ermessens bemessen<br />

würden. Geradezu apodiktisch forderte Pfenninger: «Gefährliche Verbrecher sind strafrechtlich nicht<br />

anders zu behandeln.» 398 Auch Xaver Gretener, der in den Postulaten der Reformbewegung eine Bedro-<br />

hung der liberalen Freiheitsrechte sah, wandte sich gegen «eine Verdrängung der beschränkten Aufgaben<br />

der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> durch ein allumfassendes, polizeiliches Schutzsystem». 399 Der Basler Richter<br />

Eduard Thurneysen (1824–1890?) bemängelte dagegen am Vorentwurf das Fehlen des «scharf ausgepräg-<br />

ten Gedankens, dass die Strafe eine Vergeltung des der Gesellschaft zugefügten Unrechts ist, <strong>und</strong> dass die<br />

Besserung beziehungsweise Unschädlichmachung des Verbrechers erst in zweiter Linie in Betracht<br />

fällt». 400 In der Expertenkommission von 1893 kam der Konflikt zwischen den Befürwortern einer regula-<br />

tiv-pragmatischen Kriminalpolitik <strong>und</strong> den Anhängern des klassischen Schuldstrafrechts vor allem bei der<br />

Diskussion der Verwahrungsbestimmungen zum Ausdruck, die von traditionalistischen Juristen wie Gre-<br />

tener oder Meyer von Schauensee gr<strong>und</strong>sätzlich abgelehnt wurden. In ihren Augen war eine Bekämpfung<br />

des Rückfalls allein durch das traditionelle Mittel der Strafverschärfung zu erreichen. Die Schlussfolgerun-<br />

gen, die Gretener <strong>und</strong> Meyer von Schauensee aus den strafrechtlichen Lernprozessen zogen, liefen denn<br />

auch primär auf eine Optimierung des bestehenden strafrechtlichen Regelsystems hinaus. Eine Ergänzung<br />

394 Stooss, 1896, 429; vgl. Expertenkommission, 1893 I, 185. Der Vorentwurf von 1893 trug dieser Unterscheidung auch dadurch<br />

Rechnung, dass er die beide Arten von Massnahmen – im Gegensatz zur heutigen Gesetzgebung – strikte trennte (Artikel 10-11,<br />

respektive 40). 1905 gab Stooss diese Trennung allerdings selbst wieder auf; vgl. Stooss, 1905, 12; Kaenel, 1981, 114, 129.<br />

395 Vgl. Stooss, 1905, 3f. Stooss distanzierte sich dadurch explizit von «psychiatrischen Kriminalpolitikern» wie Kraepelin <strong>und</strong><br />

Aschaffenburg.<br />

396 Liszt, 1905a; Schmidt, 1995, 397.<br />

397 Vgl. Botschaft des B<strong>und</strong>esrats zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch, in: BBl, 1918 IV, 1-<br />

231, hier 15-19. Zu den einzelnen Bestimmungen: Rusca, 1981, 116-145.<br />

398 Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, in: ZSR, 11, 1892, 597f.<br />

399 Vgl. Gretener, 1897, 13; Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, in: ZSR, 11, 1892, 623; Expertenkommission,<br />

1893 I, 176f., 191. Gretener hatte sich bereits 1884 <strong>und</strong> 1890 eingehend mit den Theorien <strong>und</strong> Konzepten der Kriminalanthropologen<br />

beschäftigt; vgl. Gretener, 1884; Gretener, 1890.<br />

400 Thurneysen, 1893, 370; Thruneysen, 1891; vgl. die Entgegnung von Stooss: Stooss, 1894a.<br />

90

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!