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Psychiatrie und Strafjustiz

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mehrfach zu beobachten Gelegenheit hatte, komme ich zum Entschluss, Sie zu bitten, als hierzu ernannter<br />

Experte die H. im Gefängnis zu besuchen <strong>und</strong> mir mitzuteilen, ob Sie eine längere psychiatrische Beo-<br />

bachtung in der Waldau als angezeigt erachteten.» 790 Auch im Fall von Johann S. begründete der zuständi-<br />

ge Untersuchungsrichter die Anordnung der Begutachtung mit dem vagen Hinweis, dass Johann den<br />

«Eindruck eines geistig <strong>und</strong> körperlich schwachen Menschen» mache. 791 Gerade solche Fallbeispiele bestä-<br />

tigen die aus der statistischen Entwicklung ableitbare Zunahme der Sensibilität der Justizbeamten gegen-<br />

über zweifelhaften Geisteszuständen. Ein Bewusstsein für die forensische Relevanz von «Grenzzustän-<br />

den», welche die <strong>Psychiatrie</strong> nicht als eigentliche Geisteskrankheiten, sondern als «geistige Anomalien»<br />

oder «Geistesschwäche» betrachteten, war im Untersuchungszeitraum unter den Berner Justizbeamten<br />

weit verbreitet.<br />

In r<strong>und</strong> einem Viertel der untersuchten Fälle waren Aussagen von Zeugen für den Entscheid ausschlagge-<br />

bend, Angeschuldigte psychiatrisch begutachten zu lassen. Eine besondere Rolle spielten dabei Aussagen<br />

von Amtspersonen wie Anstaltsleiter, Lehrer, Pfarrer oder Landjäger. Im Gegensatz zu den Untersu-<br />

chungsbeamten waren diese Personen mit der Lebenswelt der Angeschuldigten näher vertraut, gleichzeitig<br />

erhielten ihre Aussagen durch ihren amtlichen Status im Vergleich zu Aussagen von Verwandten <strong>und</strong><br />

Bekannten ein höheres Gewicht. So wurde im Fall des 65jährigen Taglöhners Christian B., der ein Bau-<br />

ernhaus angezündet hatte, Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit erstmals vom Leiter der Armenanstalt<br />

Bärau aufgeworfen, in der Christian B. zweimal verpflegt worden war. Diese Aussage sowie der Umstand,<br />

dass Christian B. von mehreren Zeugen als «jähzornig» bezeichnet worden war <strong>und</strong> verschiedentlich Dro-<br />

hungen ausgestossen hatte, bewogen den Untersuchungsrichter von Langnau ein psychiatrisches Gutach-<br />

ten anzuordnen. 792 Im Fall des Rentiers Oskar M., der mit einem Gewehr auf seinen Neffen gezielt hatte,<br />

lag den Untersuchungsbehörden nebst Zeugenaussagen ein Leum<strong>und</strong>sbericht eines Polizeiinspektors vor,<br />

der Oskar M. als «geistesgestört» bezeichnete. Dieser würde an «Verfolgungswahn» leiden <strong>und</strong> man habe<br />

«allgemein Furcht vor ihm». 793 Beim zwanzigjährigen Ernst T. gab dagegen eine Bemerkung des Lehrers in<br />

dessen Zeugnis über schwache intellektuelle Leistungen den Ausschlag für die Anordnung einer Begutach-<br />

tung. 794 Anstalts-, Leum<strong>und</strong>s- oder Polizeiberichte spielten somit für die Justizbehörden eine wichtige<br />

Rolle, wenn es darum ging, den Geisteszustand der Angeschuldigten einzuschätzen, welche sie persönlich<br />

kaum kannten. 795 Wie noch zu zeigen sein wird, gelangten solche Berichte <strong>und</strong> Aussagen über den Weg<br />

der Untersuchungsakten auch den psychiatrischen Sachverständigen zur Kenntnis <strong>und</strong> dienten ihnen als<br />

wichtige Informationsquelle.<br />

Zusätzlich akzentuiert wurde das Gewicht von Alltagswahrnehmungen bei Begutachtungsbeschlüssen, die<br />

aufgr<strong>und</strong> von Zeugenaussagen aus dem persönlichen Umfeld der Angeschuldigten zustande kamen. So<br />

gaben im Fall des wegen Brandstiftung angeklagten Zimmermanns Jakob M. nebst den Aussagen seines<br />

ehemaligen Lehrers vor allem die Angaben des Vaters, eines Onkels <strong>und</strong> des Schwagers den Ausschlag für<br />

die Begutachtung. Der Vater erklärte vor dem Untersuchungsrichter, er sei mit seinem Sohn «nicht zufrie-<br />

den», dieser sei «etwas jähzornig». Der Onkel führte an, Jakob M. habe seinem Vater oft Streiche gespielt<br />

<strong>und</strong> sei «lügenhaft». Bezüglich des Geisteszustands seines Neffen hielt er fest: «Seinem Treiben nach hätte<br />

man manchmal glauben können, er sei nicht bei seinen Sinnen». In die gleiche Richtung äusserte sich der<br />

790 StAB BB 15.4, Band 1659, Dossier 8992, Untersuchungsrichter von Bern an von Speyr, 23. Juli 1898.<br />

791 StAB BB 15.4, Band 1853, Dossier 606, Psychiatrisches Gutachten über Johannes Schenk, 20. März 1908.<br />

792 StAB BB 15.4, Band 2081, Dossier 1772, Psychiatrisches Gutachten über Christian B., 19. Juni 1918; vgl. pag. 10, 53 der Akten.<br />

793 UPD KG 7153, Psychiatrisches Gutachten über Oskar M., 14. Juli 1913.<br />

794 StAB BB 15.4, Band 1956, Dossier 1122, Psychiatrisches Gutachten über Ernst T., 11. Februar 1913.<br />

795 Vgl. in Bezug auf Leum<strong>und</strong>sberichte: Ludi, 1999, 512.<br />

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