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Psychiatrie und Strafjustiz

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jedoch wieder um 44% zu. 726 Der Anteil der vor den Geschworenen angeklagten <strong>und</strong> psychiatrisch begut-<br />

achteten Personen stieg über die Stichjahre 1893, 1898, 1903 <strong>und</strong> 1908 hinweg kontinuierlich von 1,7%<br />

auf 9,1%. 1913, ein Jahr mit ausserordentlich hoher Geschäftslast <strong>und</strong> einer vergleichsweise geringen Zahl<br />

an Begutachtungen, betrug dieser Prozentsatz nur 2,5%. 1918 wurden 5,3% der vor den Geschworenen-<br />

gerichten angeklagten Personen psychiatrisch begutachtet. 727<br />

Aufgr<strong>und</strong> des Datenmaterials lässt sich zum Verhältnis von Kriminalitätsentwicklung <strong>und</strong> forensisch-<br />

psychiatrischer Praxis zweierlei feststellen. Zum einen fand zwischen 1886 <strong>und</strong> 1915 bei tendenziell sin-<br />

kender Geschäftslast der Justiz eine deutliche Zunahme der psychiatrischen Begutachtungen statt. Dies<br />

bedeutete sowohl eine absolute, als auch eine relative Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis.<br />

Zu einem ähnlichen Bef<strong>und</strong> kam auch das statistische Büro des Kantons Bern im Kommentar zur Krimi-<br />

nalstatistik von 1908. Das Sinken der Kriminalitätsrate sei, so die Statistiker, unter anderem eine Folge der<br />

vermehrten Erkennung auf Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit aufgr<strong>und</strong><br />

psychiatrischer Gutachten. Auch wenn sie diese Entwicklung als «humanitären Einfluss» auf die Straf-<br />

rechtspflege positiv werteten, warnten die Statistiker die Justiz gleichwohl vor Missbräuchen, hätten doch<br />

die Psychiater die Gewohnheit, «in jedem ihr zur Beobachtung übergebenen Delinquenten geistige Stö-<br />

rungen oder Anormalitäten festzustellen». 728 Gegenteilige Schlüsse aus der besagten Kriminalitätsstatistik<br />

zog dagegen ein Arzt aus Bern: «[…] es besteht unserer Meinung nach eher die Gefahr, dass ein Kranker<br />

ohne Expertise verhandelt <strong>und</strong> bestraft, resp. unrichtig behandelt wird, als dass das Gegenteil ge-<br />

schieht.» 729 Zum andern liegt es nahe, dass die während der Kriegsjahre festzustellende Zunahme der Be-<br />

gutachtungen auf die gewachsene Geschäftslast der kantonalen Justiz zurückzuführen ist. Ebenfalls Ein-<br />

fluss auf die Zunahme dürften Begutachtungsaufträge der Militärjustiz gehabt haben. 730 Allerdings stiegen<br />

auch zwischen 1916 <strong>und</strong> 1920 die Gutachtenzahlen gegenüber der vorhergehenden Fünfjahresperiode<br />

deutlich stärker an als die Zahl der Angeklagten. 731 Die Zahl der Gutachten nahm zudem auch nach<br />

Kriegsende tendenziell weiter zu, als die Zahl der Angeklagten bereits wieder im Sinken begriffen war. Aus<br />

diesen Gründen ist es statthaft, auch für die Zeit des Ersten Weltkriegs von einer relativen Ausweitung der<br />

forensisch-psychiatrischen Praxis auszugehen.<br />

Die Psychiater der Jahrh<strong>und</strong>ertwende hielten nicht nur Juristen sondern auch praktizierenden Allgemein-<br />

medizinern die fehlende Kompetenz vor, geistesgestörte DelinquentInnen richtig zu erkennen. Damit<br />

verb<strong>und</strong>en waren Forderungen nach einer Monopolisierung der Gutachtertätigkeit durch spezialisierte<br />

<strong>Psychiatrie</strong>ärzte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die in Kapitel 4.3 erwähnten Postulate Ludwig<br />

Franks, die 1901/02 vom Verein schweizerischer Irrenärzte diskutiert worden sind. Auch von Speyr forderte<br />

1909: «In jedem Fall sollten auf diesem Gebiete [der forensischen <strong>Psychiatrie</strong>] nur solche Ärzte zu Sach-<br />

verständigen ernannt werden, die irrenärztlich gehörig geschult <strong>und</strong> erfahren sind. Der gewöhnliche Arzt<br />

besitzt vielfach das Interesse <strong>und</strong> Verständnis für die Geisteskrankheiten nicht, wenn er nur die Kollegien<br />

<strong>und</strong> Klinik der Universität besucht hat.» 732 Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> stellt sich die Frage, ob im Untersu-<br />

chungszeitraum von einer Verdrängung der Allgemeinmediziner aus Begutachtungsfunktionen gesprochen<br />

726 Kriminalstatistik des Kantons Bern, 1908, 90; Bericht über die Staatsverwaltung, 1886–1920.<br />

727 StAB BB 15.4, Bände 80b-80c, 87, 94-95, 104-105, 114-115, 124-125. Nicht berücksichtigt sind hier Gutachten von nicht<br />

spezialisierten Ärzten.<br />

728 Kriminalstatistik des Kantons Bern, 1908, 37-39. Die Überlegung der Statistiker trifft allerdings nur auf den gemessen an der Gesamtkriminalität<br />

zu vernachlässigenden Teil von DelinquentInnen zu, deren Verfahren vor Anklageerhebung eingestellt wurde.<br />

Die von den Gerichten wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochenen DelinquentInnen fungierten dagegen sehr wohl als<br />

Angeklagte in der Kriminalitätsstatistik.<br />

729 Lütschg, 1910/11, 389.<br />

730 Zwischen 1914 <strong>und</strong> 1918 erstellten die Berner Anstalten mindestens 39 Gutachten zuhanden der Militärjustiz.<br />

731 Zunahme der Gutachten: 75%, Zunahme der Angeklagten: 26%.<br />

732 Speyr, 1909, 16.<br />

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