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Psychiatrie und Strafjustiz

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Lina H. hatte im Juni 1898 ihre Kinder sowie sich selbst mit Kohlenoxydgas vergiften wollen. Da sie den<br />

Selbstmordversuch überlebte, hatte sie sich wegen zweifachen Mordes zu verantworten. Aufgr<strong>und</strong> ihres<br />

Verhaltens in der Haft ordnete der zuständige Untersuchungsrichter eine ambulante Begutachtung durch<br />

den Sek<strong>und</strong>ararzt der Waldau an. Lina H. erzählte dem Psychiater, sie habe die Tat aus Verzweiflung über<br />

das Schicksal ihrer Familie begangen. Denn bereits kurz nach der Heirat habe ihr Mann begonnen, das<br />

Haushaltsgeld zu vertrinken <strong>und</strong> sie zu schlagen. Für sie <strong>und</strong> ihre Kinder habe ein «Ringen mit Not, Sorge<br />

<strong>und</strong> Trübsal» eingesetzt. Als sich der Mann auswärts auch noch eine Geschlechtskrankheit zugezogen<br />

habe <strong>und</strong> deswegen ins Spital gekommen sei, sei ihre Verzweiflung noch weiter gewachsen. Sie habe den<br />

Mut <strong>und</strong> die Hoffnung aber vollends verloren, als ihr der Mann sagte, «sie könne sich hinziehen, so viel sie<br />

wolle, so trage das doch nicht ab». Ohne einen Ausweg zu sehen, habe sie beschlossen, ihre Kinder <strong>und</strong><br />

sich selbst umzubringen.<br />

Aufgr<strong>und</strong> seiner Beobachtungen kam der Sachverständige zum Schluss, dass Lina H. «geistig krankhaft<br />

veranlagt, psychopathisch» sei. Dafür würden nebst der «Disposition zu psychopathischen Zuständen» in<br />

der Familie auch ihr «unstetes Wesen», die häufigen Stellenwechsel sowie ihre «Empfindlichkeit <strong>und</strong> Reizbarkeit»<br />

sprechen. In der eingeklagten Tat sah er in erster Linie eine unangemessene psychische Reaktion<br />

auf die misslichen Familienverhältnissen: «H<strong>und</strong>ert Andere, die sich in ähnliche, wenn nicht noch schlim-<br />

meren Verhältnissen befinden, als es bei ihr der Fall war, denken nicht daran, mit dem Leben abzuschlies-<br />

sen. Denn der Mensch hat normalerweise den Trieb in sich, zu leben <strong>und</strong> seine ganze Kraft einzusetzen,<br />

um das Leben zu erhalten. Wenn Frau H. infolge der auf sie einstürmenden Sorgen, die ein normaler<br />

Mensch sollte ertragen können, zusammenbrach, so zeigt dies, dass sie eine verminderte Widerstandskraft<br />

gegen schädliche materielle <strong>und</strong> psychische Einflüsse besitzt.» Der Psychiater blendete die schwierigen<br />

Lebensbedingungen von Lina H. keineswegs aus; er schilderte ihre Abhängigkeit von einem untreuen,<br />

trinkenden <strong>und</strong> gewalttätigen Mann sowie die Umstände, die zu ihrer Verzweiflung führten, sogar mit<br />

einiger Empathie. Dennoch lokalisierte er die Ursache für die Verzweiflungstat letztlich nicht in äusseren<br />

Umständen, sondern in der «verminderten Widerstandskraft» der Explorandin. Das Gutachten deutete die<br />

Tötung der Kinder <strong>und</strong> der Selbstmordversuch als Ergebnis eines Kampfs zwischen einem «Lebenstrieb»<br />

<strong>und</strong> den «einstürmenden Sorgen». Die «psychopathische Anlage» von Lina H. spielte in diesem imaginären<br />

Kampf insofern eine zentrale Rolle, als sie die «Widerstandskraft», die ein «normaler» Mensch von der Tat<br />

abgehalten hätte, massgeblich geschwächt hatte. Wie in andern Fällen rekurrierte hier der Sachverständige<br />

auf den Begriff der «Normalität», welche er mit einer «natürlichen Widerstandskraft» gegen schädliche<br />

Umwelteinflüsse assoziierte. Die Unversehrtheit dieser «Widerstandskraft» stellte im Gegenzug eine ent-<br />

scheidende Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit dar: «Wenn aber ein Mensch für ein<br />

Verbrechen, das er begeht, verantwortlich sein soll, so muss er nicht nur einsehen können, dass seine<br />

Handlung strafbar ist, sondern er muss auch die Kraft haben, sich gegen eine solche Handlung zu wehren<br />

<strong>und</strong> dem Andrang eines verführerischen Impulses Widerstand leisten zu können.» Das Gutachten erkann-<br />

te deshalb auf eine verminderte Zurechnungsfähigkeit. 990 Analog argumentierten die Sachverständigen im<br />

Gutachten über Fritz R., als sie dem Exploranden gewissermassen ihre eigene Schlussfolgerungen in den<br />

M<strong>und</strong> legten: «[...] er gibt zu, dass es ihm seiner Eigenheiten, seiner Reizbarkeit, der unmotivierten Stim-<br />

mungswandel, der Unfähigkeit, den Impulsen, die ihn zu verkehrtem Handeln treiben, Einhalt zu gebie-<br />

ten, wegen nicht möglich ist, in der Freiheit in sozialer Weise mit seinen Mitmenschen zu leben, ohne sie<br />

990 StAB BB 15.4, Band 1659, Dossier 8992, Psychiatrisches Gutachten über Lina H., 3. September 1898. Die Geschworenen<br />

sprachen Lina H. dagegen wegen Unzurechnungsfähigkeit frei.<br />

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