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Psychiatrie und Strafjustiz

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1821 in Leipzig angeklagt, seine Geliebte erstochen zu haben. Im Laufe der Strafuntersuchung wurde er<br />

zweimal durch den Hofrat <strong>und</strong> Arzt Johann Christian Clarus (1774–1854) begutachtet. Beide Gutachten<br />

schlossen das Vorliegen einer Geistesstörung aus <strong>und</strong> stellten bei Woyzeck stattdessen «Kennzeichen von<br />

moralischer Verwilderung, von Abstumpfung gegen natürliche Gefühle <strong>und</strong> von Gleichgültigkeit in Rück-<br />

sicht der Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft» fest. 1824 wurde Woyzeck als voll zurechnungsfähig hingerichtet. 199<br />

Büchner griff diesen Straffall in seinem erst 1913 uraufgeführten Stück in doppelter Hinsicht auf. Einer-<br />

seits stellte er den moralisierenden Schlussfolgerungen von Clarus das Bild eines Mannes gegenüber, der<br />

von krankhaften Sinnestäuschungen zu seiner Tat getrieben wurde, andererseits problematisierte er das<br />

Axiom des bürgerlichen Strafrechts von der Voraussetzbarkeit der Willensfreiheit. 200 Der Fall Woyzeck<br />

stiess nicht nur bei Büchner, sondern auch bei Ärzten, die sich für eine Ausweitung ihrer Kompetenzen<br />

vor Gericht stark machten, auf lebhaftes Interesse. Die Gutachten von Clarus gehörten in der zweiten<br />

Hälfte der 1820er Jahren zu dem umstrittensten Texten der deutschen Gerichtsmedizin. 201 Im Zentrum<br />

dieser Debatte stand die Frage, wo die Messlatte der strafrechtlichen Verantwortung anzusetzen <strong>und</strong> die<br />

Grenze der strafrechtlichen Ordnung zu ziehen war. Politisch liberalen Ärzten wie dem erwähnten Fried-<br />

reich diente der «schauderhafte Justizmord» dazu, der sächsischen Justiz des Vormärz vorzuwerfen, bei<br />

der Zubilligung strafausschliessender Gründe zu restriktiv zu verfahren <strong>und</strong> damit unmenschliche Urteile<br />

gegenüber geistesgestörten DelinquentInnen zu verhängen. 202 Die Verteidiger der obrigkeitlichen Justiz-<br />

praxis hielten dagegen am Prinzip einer weitreichenden individuellen Verantwortlichkeit fest, das nicht<br />

vorschnell Preis gegeben werden dürfe. 203 Dass solche Befürchtungen geradezu dramatische Züge anneh-<br />

men konnten, verdeutlicht eine Wortmeldung des Medizinprofessors Julius Caspar Mende (1779–1832)<br />

aus dem Jahre 1821: «Könnte man jeder Tat bis in ihre ersten Quellen nachspüren, so würde man wohl<br />

ihre Notwendigkeit sogleich erkennen, <strong>und</strong> die Unmöglichkeit auf Seiten des Täters, sie zu unterlassen.<br />

Hiedurch hörte mit der freien Willensbestimmung aber auch jede Zurechnungsfähigkeit auf, <strong>und</strong> das<br />

Verbrechen verschwände überhaupt aus der Reihe der Wirklichkeiten. Die peinliche Rechtspflege wäre<br />

dann freilich unnütz; damit würde aber auch der Staat selber völlig aufgelöst.» 204 Das aufklärerische Be-<br />

mühen um psychologische Menschenkenntnis, wie es etwa Schillers Kriminalgeschichte zugr<strong>und</strong>e gelegen<br />

hatte, geriet hier definitiv in den Ruch, die Gr<strong>und</strong>lagen des bürgerlichen Schuldstrafrechts zu erschüttern.<br />

Der bürgerliche Willensdiskurs warf in der Justizpraxis die Frage auf, ob der menschliche Wille an sich<br />

erkranken konnte, das heisst, ob die Willensfreiheit von DelinquentInnen aufgehoben sein konnte, ohne<br />

dass die klassischen Anzeichen von Geisteskrankheit oder Verstandesschwäche vorlagen. Die positive<br />

Beantwortung dieser Frage setzte voraus, dass die einzelnen Vermögen der menschlichen Seele –<br />

Verstand, Gemüt, Wille – über eine gewisse Unabhängigkeit voneinander verfügten. Genau diesen Nach-<br />

weis meinten die Vertreter der Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e, allen voran Kant in seiner Anthropologie, geliefert<br />

zu haben. 205 Zu einem ähnlichen Schluss gelangte Franz Joseph Gall (1758–1828), als er den Sitz einzelner<br />

psychischer Funktionen in verschiedenen Gehirnregionen lokalisierte. 206 Solche Modelle lieferten den<br />

«psychischen Ärzten» die Legitimation für eine weitreichende Seelenzergliederung. Nachdem bereits Ernst<br />

199 Vgl. Büchner, 1988, 630-653, hier 652.<br />

200 Vgl. Büchner, 1988, 241f.; Reuchlein, 1985, 59-75.<br />

201 Vgl. Reuchlein, 1985, 45f.<br />

202 Friedreich, 1835, 299f.<br />

203 So verteidigte Heinroth, 1825, 325f., beispielsweise die Gutachten von Clarus.<br />

204 Mende, 1821, 267f.; ebenfalls zitiert: Reuchlein, 1985, 72.<br />

205 Zur Vermögensseelenlehre, namentlich bei Kant: Dörner, 201-203; Werlinder, 1978, 23. Beispielhaft charakterisiert Hoffbauer,<br />

1821, 24, die Auswirkungen der Vermögensseelenlehre auf die Psychopathologie: «Die Krankheiten der Seele [...] können nur<br />

nach ihrem psychologischen Sitze [...] oder nach denjenigen Vermögen der Seele, die sich, entweder an sich oder im Verhältnis<br />

zueinander verkehrt äussern, unterschieden werden.»<br />

206 Vgl. Hagner, 1997, 89-118; Lantieri-Laura, 1994; Schmid, 1984.<br />

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