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Psychiatrie und Strafjustiz

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onen? Welche lebensweltlichen Bezüge flossen darin ein? Inwiefern enthalten diese Deutungsmus-<br />

ter geschlechtsspezifische Merkmale? Schliesslich sind die Auswirkungen psychiatrische Begutachtun-<br />

gen in Bezug auf die Selektivität des Strafverfahrens, respektive das weitere Schicksal der betroffe-<br />

nen DelinquentInnen zu diskutieren. Inwiefern wurden die psychiatrischen Expertenmeinungen<br />

von den Justizbehörden übernommen, inwiefern waren sie Gegenstand von Konflikten, respektive<br />

von prozessualen Strategien der beteiligten AkteurInnen? Welche Auswirkungen hatte der Aus-<br />

schluss oder die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit auf die betroffenen DelinquentInnen?<br />

Inwiefern sahen sich so genannte «gemeingefährliche» StraftäterInnen neuen institutionellen Zugriffen<br />

durch die <strong>Psychiatrie</strong> ausgesetzt? Zusammengefasst wird innerhalb dieses Fragekomplexes zu<br />

diskutieren sein, welche Instanzen <strong>und</strong> AkteurInnen, welche administrativen Mechanismen <strong>und</strong><br />

welche Deutungsmuster im Bereich des Strafrechts an jenem Prozess beteiligt waren, der gemeinhin<br />

als «Psychiatrisierung» bezeichnet wird. Angestrebt wird demnach eine Analyse der sozialen Macht-<br />

beziehungen, die für die forensisch-psychiatrische Praxis konstitutiv waren.<br />

• Als letzter Fragekomplex stellt sich die Problematik der institutionellen <strong>und</strong> kognitiven Ausdifferenzierung der<br />

forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Bekanntlich weist die<br />

forensische <strong>Psychiatrie</strong> in der Schweiz im Vergleich zum umliegenden Ausland bis heute ein mar-<br />

kantes Institutionalisierungsdefizit auf. 9 Zu untersuchen ist in diesem Zusammenhang die Frage,<br />

inwiefern diese Tatsache mit der spezifischen Art <strong>und</strong> Weise zusammenhängt, mit der Behörden<br />

<strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> hierzulande auf die durch die Intensivierung der forensisch-psychiatrischen Praxis<br />

seit den 1880er Jahren hervorgerufenen institutionellen Herausforderungen reagiert haben. Es ist<br />

davon auszugehen, dass die Schaffung neuer institutioneller Zugriffe auf StraftäterInnen durch eine<br />

forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens mit beträchtlichen Folgeproblemen verb<strong>und</strong>en<br />

war, die ihrerseits für die weitere Entwicklung des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds bestim-<br />

mend waren. Konkret von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Diskussionen innerhalb<br />

der psychiatrischen scientific community über die Errichtung spezieller forensisch-psychiatrischer Ver-<br />

wahrungsinstitutionen. Zu fragen ist dabei namentlich nach den handlungsleitenden Überlegungen<br />

innerhalb der Disziplin, nach äusseren Rahmenbedingungen <strong>und</strong> nach alternativen Handlungsstra-<br />

tegien. Wie die Stellungnahme der Schweizer Psychiater von 1944 belegt, stellte vor allem die Ein-<br />

führung des schweizerischen Strafgesetzbuchs einen eigentlichen «Praxisschock» (Detlev Peukert)<br />

für die Disziplin dar. 10 Unter diesen Umständen wurde die Ausdifferenzierung einer spezialisierten<br />

forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zu einem viel diskutierten Lösungsansatz. Zu fragen ist nach dem Verlauf<br />

dieser Diskussionen sowie nach den Auswirkungen der schliesslich gewählten Handlungsoptionen<br />

auf die psychiatrische Disziplin wie auf den gesellschaftlichen Umgang mit kriminellem Verhalten in<br />

der frühen Nachkriegszeit.<br />

Die Diskussion dieser umfangreichen Fragekomplexe setzt eine sinnvolle thematische <strong>und</strong> zeitliche<br />

Schwerpunktsetzung voraus. Die Untersuchung beschränkt sich im Wesentlichen auf die deutschschweizeri-<br />

sche Entwicklung im Bereich des Erwachsenenstrafrechts. 11 Vor allem im ersten Teil wird indes versucht,<br />

diese spezifische Entwicklung mittels der Analyse juristischer <strong>und</strong> medizinischer Leitdiskurse in einen<br />

gesamteuropäischen Zusammenhang zu stellen (Kapitel 2 <strong>und</strong> 3). Eine weitere Schwerpunktsetzung er-<br />

9 Maier/Urbaniok, 1998; Dittmann, 1996; Schlussbericht, 1994.<br />

10 Peukert, 1989, 113. Peukert verwendet den Begriff in Zusammenhang mit der Radikalisierung der deutschen Sozialpädagogik<br />

im ersten Drittel des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

11 Nicht berücksichtigt wird dadurch die Mitwirkung der <strong>Psychiatrie</strong> im Jugendstrafrecht. Ebenfalls ausgeklammert bleibt der<br />

Beizug von Psychiatern <strong>und</strong> Ärzten zur Beurteilung einzelner Tatbestände, die im Besonderen Teil des Strafrechts definiert werden<br />

(Abtreibung, Schändung).<br />

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