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Psychiatrie und Strafjustiz

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Strafmasses zu. Es lag an ihr zu entscheiden, ob <strong>und</strong> in welcher Form die psychiatrischen Deutungsange-<br />

bote in die juristische Urteilsbegründung einfliessen sollten, <strong>und</strong> mit welcher Strafmilderung ein als ver-<br />

mindert zurechnungsfähig bef<strong>und</strong>ener Straftäter rechnen konnte. Eine Medikalisierung kriminellen Ver-<br />

haltens war letztlich das Ergebnis eines Zusammenspiels dieser Akteure.<br />

Sowohl die in Kapitel 6 unternommene statistische Auswertung, als auch die in diesem Unterkapitel analy-<br />

sierten Fallbeispiele belegen, dass die Berner Justizbehörden im Untersuchungszeitraum psychiatrischen<br />

Deutungsangeboten in der Regel einen hohen Stellenwert beimassen. Dies wird umso deutlicher, als viele<br />

Differenzen zwischen Gutachten <strong>und</strong> Urteilen lediglich den Grad der Verminderung der Schuldfähigkeit<br />

betrafen. Ausgesprochene Konfliktfälle wie diejenigen von Emile C. dürften entgegen der Rhetorik ein-<br />

zelner Psychiater im Berner Gerichtsalltag vergleichsweise selten vorgekommen sein. Ausgesprochen<br />

deutlich zum Ausdruck kam der festzustellende Trend zu einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung in<br />

Einstellungsverfügungen <strong>und</strong> Gerichtsurteilen, die direkt Bezug auf die Argumentation der psychiatri-<br />

schen Sachverständigen nahmen. Psychiatrische Deutungsmuster erlangten dadurch über die Grenze des<br />

psychiatrischen Bezugssystems hinaus Anschlussfähigkeit. Die untersuchten Fälle zeigen, dass im Untersuchungszeitraum<br />

der Gr<strong>und</strong>konsens zwischen Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, dass ausgesprochen geisteskranke<br />

DelinquentInnen, so genannte «eindeutige Fälle», für ihre Handlungen nicht strafrechtlich belangt werden<br />

durften, nicht in Zweifel gezogen wurde. Die angeführten Konfliktfälle betrafen ausschliesslich Fälle, die<br />

dem Bereich der psychiatrisch neu erschlossenen «Grenzzustände» zuzuordnen sind. Dass solche «Grenz-<br />

fälle» Anlass zu divergierenden Einschätzungen <strong>und</strong> unterschiedlichen Strategien geben konnten, liegt auf<br />

der Hand. Wie im Laufe dieser Untersuchung wiederholt gezeigt worden ist, standen sich gerade im Über-<br />

gangsbereich von Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit oft traditionelle, das heisst moralisierende <strong>und</strong> neue, die<br />

pathologische Qualität einer Straftat herausstreichende Deutungsmuster gegenüber. Trotz der Zunahme<br />

der Begutachtungen <strong>und</strong> der wachsenden Sensibilisierung der Justizbehörden ist nicht zu übersehen, dass<br />

die neuen psychiatrischen Deutungsmuster, die anstelle starrer Normalitätsgrenzen fliessende Übergänge<br />

postulierten, ein permanentes Konfliktpotenzial für die forensisch-psychiatrische Praxis darstellten. Dieses<br />

Konfliktpotenzial wurde in der Berner Justizpraxis allerdings durch das Rechtsinstitut der verminderten<br />

Zurechnungsfähigkeit sowie die Möglichkeit, sichernde Massnahmen gegen «abnorme» Delinquenten zu<br />

verhängen, beträchtlich entschärft. Der hohe Anteil an Verfahrenseinstellungen, an die sich meist sichernde<br />

Massnahmen anschlossen, sowie jene Fälle, wo die Kriminalkammer selbst eine Verwahrung beantrag-<br />

te, zeigen, dass die Justizbehörden von den Möglichkeiten, die ihnen die Irrenanstalten als Verwahrungsin-<br />

stitutionen boten, bereitwillig Gebrauch machten. Wie in Kapitel 8 ausgeführt wird, lief eine Medikalisie-<br />

rung kriminellen Verhaltens somit keineswegs auf einen Abbau institutioneller Zugriffe auf DelinquentIn-<br />

nen hinaus. Vielmehr erfuhren solche Zugriffe eine zusätzliche Ausdifferenzierung.<br />

7.7 Fazit: Forensische <strong>Psychiatrie</strong> unter dem «bürgerlichen Wertehimmel»<br />

Die forensisch-psychiatrische Begutachtungspraxis, wie sie in diesem Kapitel analysiert worden ist, war in<br />

die bürgerlicher Rechts-, Gesellschafts- <strong>und</strong> Werteordnung eingebettet, die sich in der Schweiz seit Ende<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts sukzessive ausgebildet hatte. Abschliessend sollen deshalb die Ergebnisse dieses aus-<br />

führlichen Kapitels unter dem Aspekt der Integration der forensisch-psychiatrischen Praxis in die bürger-<br />

liche Gesellschaft gebündelt werden.<br />

Eine soziokulturelle Prägung erfuhr die forensisch-psychiatrische Praxis zum einen in rechtlicher <strong>und</strong> instituti-<br />

oneller Hinsicht. Sowohl das Schuldstrafrecht, als auch die moderne <strong>Psychiatrie</strong> waren im Zuge der Entste-<br />

hung der bürgerlichen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden. Zum andern lag<br />

der psychiatrischen Begutachtungspraxis ein genuin bürgerlicher Wertekanon zugr<strong>und</strong>e, anhand dessen sich<br />

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