13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

einer «arbeitsteiligen Bewältigung des Bösen» 7 durch beide Disziplinen ausging. Konkret bedeutete dies,<br />

dass psychiatrische Deutungsmuster kriminellen Verhaltens vermehrt in bestehende Strafpraktiken einzu-<br />

sickern vermochten, wodurch es zu jener Verzahnung von staatlicher Strafmacht <strong>und</strong> Humanwissenschaf-<br />

ten kam, die Michel Foucault als charakteristisch für die Moderne bezeichnet hat. 8 Die Stellungnahme der<br />

Schweizer Psychiater von 1944 zeigt allerdings, dass diese Lern- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse keineswegs<br />

gradlinig verliefen, sondern wesentliche Impulse durch situative Konstellationen erhielten.<br />

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, diesen spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts aus-<br />

zumachenden Trend zu einer interdisziplinären <strong>und</strong> arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch Straf-<br />

justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> am Beispiel der deutschsprachigen Schweiz nachzuzeichnen <strong>und</strong> dabei die spezifi-<br />

schen Rahmenbedingungen, Entwicklungsdynamiken <strong>und</strong> Handlungsoptionen, die mit der Ausdifferen-<br />

zierung <strong>und</strong> Verkoppelung der beiden Bezugssysteme verb<strong>und</strong>en waren, zu rekonstruieren. Unterschieden<br />

werden dabei zwei Untersuchungsebenen: Auf der Ebene der Rechts- <strong>und</strong> Kriminalpolitik wird es einerseits darum<br />

gehen aufzuzeigen, inwieweit Medikalisierungsstrategien in der Schweiz zwischen 1850 <strong>und</strong> 1950 Hand-<br />

lungsoptionen für den gesellschaftlichen Umgang mit kriminellem Verhalten darstellten. Ein Schwerpunkt<br />

bildet dabei die um 1890 einsetzende Debatte um die Vereinheitlichung <strong>und</strong> Reform des schweizerischen<br />

Strafrechts, in der es unter anderem darum ging, gesetzliche Regelungen für die Medikalisierung kriminel-<br />

len Verhaltens aufzustellen. Wie die zitierten Stellungnahmen der Schweizer Irrenärzte zeigen, erfuhren<br />

diese Aushandlungsprozesse wesentliche Impulse durch die direkt betroffenen Berufsgruppen, deren Inte-<br />

ressen <strong>und</strong> Strategien für die Untersuchung deshalb von prioritärer Bedeutung sein werden. Andererseits<br />

soll auf der Ebene der Justizpraxis das konkrete Zusammenwirken von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> bei der<br />

Bewältigung kriminellen Verhaltens analysiert werden. Konkretisiert wird diese Ebene mittels einer empi-<br />

risch f<strong>und</strong>ierten Untersuchung der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern zwischen 1890 <strong>und</strong><br />

1920. Damit verb<strong>und</strong>en ist die Frage, inwiefern sich zwischen der Ebene der Justizpraxis <strong>und</strong> der Ebene<br />

der Rechtspraxis Rückkoppelungseffekte ausmachen lassen, respektive inwiefern sich die Interdependenz<br />

dieser beiden Ebene als Ergebnis reziproker Lernprozesse verstehen lässt.<br />

Im Sinn einer forschungspraktischen Operationalisierung lässt sich die übergeordnete Fragestellung nach<br />

der Herausbildung einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung in vier Fragekomplexe auffächern:<br />

• In einer langfristigen Perspektive, die den Blick ins späte 18. <strong>und</strong> frühe 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückwirft,<br />

ist zunächst nach dem Stellenwert der Medikalisierung kriminellen Verhaltens in der bürgerlichen Gesellschaft<br />

zu fragen. Unter welchen Umständen konnte sich eine (teilweise) Medikalisierung kriminellen Ver-<br />

haltens durch den Beizug medizinischer <strong>und</strong> psychiatrischer Experten zu einer tragfähigen, wenn-<br />

gleich in ihrer Reichweite beschränkten Kriminalitätsbewältigungsstrategie entwickeln? Welche<br />

Problemlagen <strong>und</strong> Konfliktfelder waren für die im Rahmen der bürgerlichen Strafrechtspflege statt-<br />

findende Ausdifferenzierung eines forensisch-psychiatrischen Praxisfelds konstitutiv? Welche Funk-<br />

tionen kamen dabei dem rechtlichen Institut der Zurechnungsfähigkeit zu? Ebenfalls zu fragen ist,<br />

welche Deutungsmuster kriminellen Verhaltens bei der ärztlichen <strong>und</strong> psychiatrischen Begutachtung<br />

von StraftäterInnen im Vordergr<strong>und</strong> standen, respektive wie sich diese Deutungsmuster <strong>und</strong><br />

Diskurse im Laufe der Zeit veränderten. In welchem Verhältnis standen diese Deutungsmuster zur<br />

normativen Konzeption des selbstbestimmten <strong>und</strong> männlich konnotierten Bürgersubjekts?<br />

7 In Anlehnung an Formmel, 1991; Strasser, 1984.<br />

8 Vgl. Foucault, 1976.<br />

10

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!