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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Bedeutung solcher Fragestellungen für die forensisch-psychiatrische Praxis lag darin, dass sie die Tä-<br />

tigkeit der psychiatrischen Sachverständigen strukturierten <strong>und</strong> gezielt auf die Erwartungen der Justizbe-<br />

hörden ausrichteten. Sie aktualisierten gleichsam die Bedingungen, unter denen eine Erfolg versprechende<br />

strukturelle Koppelung zwischen den beiden Bezugssystemen stattzufinden vermochte. Durch die Formu-<br />

lierung der Fragestellungen waren die Psychiater gehalten, präzise Aussagen zu Rechtsbegriffen wie der<br />

Willensfreiheit zu machen. Es oblag demzufolge ihnen, eine Übersetzung medizinischer Bef<strong>und</strong>e in die<br />

Differenzschemata des Rechtssystems vorzunehmen. Fragestellungen, die sich auf eine Untersuchung des<br />

Geisteszustands beschränkten <strong>und</strong> den Sachverständigen erlaubten, eine rein medizinische Diagnose zu<br />

stellen, erwiesen sich in der Perspektive der Justizbehörden tendenziell als dysfunktional. In solchen Fällen<br />

oblag es diesen selbst, die medizinischen Aussagen in justiziable Kategorien zu transformieren. Die Berner<br />

Justizbehörden vermieden es aber auch, die Sachverständigen direkt über die Zurechnungsfähigkeit der<br />

Angeschuldigten zu befragen. Stattdessen verlangten sie Aussagen über die einzelnen Komponenten der<br />

gesetzlichen Definition der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> behielten sich dadurch den abschliessenden Ent-<br />

scheid über die strafrechtliche Verantwortlichkeit vor. Mit der Kompetenz, den Sachverständigen die Fra-<br />

gestellungen vorzugeben, verfügten die Justizbehörden somit über wirksame Möglichkeiten, das Erkennt-<br />

nisinteresse der Psychiater zu steuern <strong>und</strong> den Wissenstransfer zwischen den beiden Bezugssystemen zu<br />

konditionieren. Die Abhängigkeit der psychiatrischen Begutachtungstätigkeit von konkreten Fragestellun-<br />

gen verdeutlicht zugleich, dass die Inanspruchnahme psychiatrischer Deutungskompetenzen in erster<br />

Linie der Lösung rechtsspezifischer Problemlagen dienen sollte. 776 In Kapitel 4 ist auf die Bestrebungen<br />

der Schweizer Psychiater im Rahmen der Strafrechtsdebatte hingewiesen worden, diese Koppelungsbedin-<br />

gungen in ihrem Sinn zu verändern. In die gleiche Richtung zielte der erwähnte Versuch Georg Glasers,<br />

die juristische Willenssemantik durch medizinische Differenzschemata zu ersetzen. 777 Solche <strong>und</strong> andere<br />

Debatten werden vor dem Hintergr<strong>und</strong> der zentralen Bedeutung der Auftragserteilung für die forensisch-<br />

psychiatrische Praxis verständlich. In diesen rechtspolitischen Diskussionen ging es letztlich um die Frage,<br />

unter welchen Bedingungen eine strukturelle Koppelung zwischen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong> künftig statt-<br />

finden sollte <strong>und</strong> welches der beiden Bezugssysteme den dabei stattfindenden Wissenstransfer kontrollie-<br />

ren kann. Was die Berner Justizpraxis im Untersuchungszeitraum anbelangt, lässt sich allerdings feststel-<br />

len, dass sich die Gutachtenaufträge <strong>und</strong> die daraus resultierenden Gutachten der Psychiater meist eng an<br />

die Komponenten der gesetzlichen Definition der Zurechnungsfähigkeit anlehnten. Die Subsumption der<br />

Gutachtenaussagen unter den Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> damit die formale Definiti-<br />

onsmacht blieb dadurch fest in der Hand der Justizbehörden.<br />

Anlässe <strong>und</strong> Umstände von Begutachtungsaufträgen<br />

Artikel 206 des Berner Strafverfahrens statuierte die Pflicht der Justizbehörden, die «Wahrheit» über den<br />

Geisteszustand von «taubstummen, blödsinnigen oder wahnsinnigen» Angeklagten zu «erforschen». 778<br />

Nähere Angaben darüber, welche konkreten Geisteszustände unter den genannten drei Begriffen zu ver-<br />

stehen waren, enthielt das Gesetz allerdings nicht. In der Praxis ergaben sich daraus für die Justizbehörden<br />

beträchtliche Ermessensspielräume, in welchen Fällen sie eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens ins<br />

Auge fassen wollten. Wie Tabelle 6 zeigt, gaben im Justizalltag denn auch unterschiedliche Gründe den<br />

Ausschlag, um eine psychiatrische Begutachtung anzuordnen.<br />

776 Vgl. zur Konditionierung von Expertenwissen durch juristische Fragestellungen: Raphael, 1996, 174; Luhmann, 1993, 91<br />

Smith/Wynne, 1989, 5, 15; Wynne, 1989, 31. Als Quelle: Cleric, 1915.<br />

777 Vgl. Kp. 5.1 <strong>und</strong> die Ausführungen zur Definition der Zurechnungsfähigkeit in Kapitel 4.31 sowie zur Diskussion, ob sich die<br />

psychiatrischen Sachverständigen direkt über die Frage der Zurechnungsfähigkeit äussern sollen, in Kp. 9.2.<br />

778 StV 1850, Artikel 206.<br />

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