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Psychiatrie und Strafjustiz

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tionen» auf die Gefangenschaft meist nichts mit eigentlicher Geisteskrankheit zu tun hätten, sondern<br />

«durch die psychopathische Art dieser Gefangenen <strong>und</strong> durch das Erlebnis des Eingesperrtseins» sowie<br />

zuweilen durch eine «ungeschickte Behandlung» verursacht würden. 1594 Wyrschs Ratschläge beschränkten<br />

sich in Fällen wie demjenigen von Joseph K. denn auch regelmässig auf eine Intensivierung der Überwa-<br />

chung. In verschiedenen Fällen stand die Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten zudem im Zusam-<br />

menhang mit der Frage, ob ein Häftling in eine andere Anstalt verlegt werden sollte. Sowohl die Anstalts-<br />

leitung, als auch die Sprechst<strong>und</strong>enpsychiater standen namentlich Verlegungen in ärztlich geleitete Anstal-<br />

ten mit Skepsis gegenüber, da sie dadurch eine Untergrabung der Strafvollzugsdisziplin befürchteten: «Es<br />

ist von grossem Vorteil, wenn solche Verlegungen vermieden werden können, schon nur darum, weil<br />

jeder, der es erreicht, mit Simulation oder dank dem beliebten Tintenstift oder indem er recht angelegent-<br />

lich von Selbstmord spricht, aus der Strafanstalt fortzukommen, bald einmal Nachahmer finden wird. Es<br />

ist also gut, dass der Psychiater schon in der Strafanstalt eingreifen <strong>und</strong> solche Reaktionen abstoppen oder<br />

ausgleichen kann, damit der geordnete Betrieb nicht gestört wird.» 1595 Die Inanspruchnahme der psychiat-<br />

rischen Sprechst<strong>und</strong>e erlaubte der Anstaltsleitung somit, Versuche der Insassen, eine Verlegung zu errei-<br />

chen, einen Riegel vorzuschieben. Durch das Erhöhen der Zugangsschwelle zu ärztlich geleiteten Anstal-<br />

ten sollten missbräuchliche «Reaktionen» von Anstaltsinsassen von vornherein verhindert werden.<br />

Die Inanspruchnahme der psychiatrischen Sprechst<strong>und</strong>e diente somit einerseits dazu, zwischen «vorge-<br />

täuschten» <strong>und</strong> «echten» Symptomen einer Geistesstörung zu unterscheiden. Zum andern sollte sie ver-<br />

meintliche Versuche seitens der Häftlinge, durch Simulieren zu Hafterleichterungen zu kommen, abblo-<br />

cken. In beiden Fällen war das Ziel eine Normalisierung des Strafvollzugs. Im Gegenzug waren sich aber<br />

Anstaltsleitung <strong>und</strong> Psychiater einig, dass eigentlich geisteskranke Straftäter in einer Straf- <strong>und</strong> Arbeitsan-<br />

stalt wie Witzwil nichts zu suchen hatten. Nach Wyrsch war die Zahl solcher Fälle allerdings «sehr ge-<br />

ring». 1596 Beim 53jährigen Johann M., der wegen «liederlichem Lebenswandel» nach Witzwil eingewiesen<br />

worden war, diagnostizierte Wyrsch das Vorhandensein von «Wahnideen». In der Sprechst<strong>und</strong>e hatte<br />

Johann M. behauptet, dass der frühere Anstaltsdirektors, den Ertrag der Sträflingsarbeit für die Ausbil-<br />

dung seiner eigenen Söhne verwendet habe <strong>und</strong> dass die Heimatgemeinde ihn selbst mit einer ehemaligen<br />

Schulkameradin verheiraten wolle. Ausführlich berichtete Johann M. über seine religiösen Erlebnisse <strong>und</strong><br />

seine «Verbindung mit dem Himmel». Wyrsch bezeichnete Johann M. in seinem Bericht schliesslich als<br />

einen «chronischen paranoiden Schizophrenen, dessen Wahnideen schon jahrelang bestehen dürften» <strong>und</strong><br />

empfahl eine klinische Beobachtung in einer Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt. 1597 Im Fall eines Epileptikers, der<br />

geistig so geschädigt sei, dass er nicht in den Betrieb einer Arbeitserziehungsanstalt passe, riet Wyrsch<br />

ebenfalls zur Versetzung in ein Verpflegungsheim oder in eine Armenanstalt. 1598<br />

Das neue Strafgesetzbuch überliess Entscheide über die Aufhebung einer Massnahme oder eine bedingte Entlassung<br />

den Vollzugsbehörden. 1599 Die Berner Vollzugsbehörden griffen beim Fällen solcher Entscheide ihrerseits<br />

regelmässig auf den psychiatrischen Dienst in den Strafanstalten zurück. Die Psychiater hatten in solchen<br />

Fällen die Erreichung der Besserungsziele zu beurteilen <strong>und</strong> Prognosen über das künftige Verhalten von<br />

Anstaltsinsassen nach der Entlassung abzugeben. Solche Prognosen beruhten in der Regel auf einer ambu-<br />

lanten Untersuchung im Rahmen der Sprechst<strong>und</strong>e sowie auf dem Studium der Akten, die im Laufe des<br />

1594 Wyrsch, 1947, 13.<br />

1595 Wyrsch, 1947, 14.<br />

1596 Wyrsch, 1947, 3.<br />

1597 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Johann M. an die Strafanstalt Witzwil, 5. Juni 1945.<br />

1598 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Karl E. an die Strafanstalt Witzwil, 27. Februar 1947.<br />

1599 StGB Artikel 17, Artikel 42-44. Im Kanton Bern war aufgr<strong>und</strong> der Verordnung vom 12. Dezember 1941 die Polizeidirektion<br />

für die Aufhebung der sichernden Massnahmen zuständig.<br />

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