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Psychiatrie und Strafjustiz

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Bei den Männern machte die Gruppe der konstitutionellen Störungen lediglich 22,0%, bei den Frauen<br />

dagegen 54,9% aus. Deutlich geringer fielen bei den Frauen die Anteile der angeborenen <strong>und</strong> einfachen<br />

Störungen sowie der Intoxikationen aus. Bei Männern wurden somit vergleichsweise häufiger als bei Frau-<br />

en intellektuelle Defizite <strong>und</strong> schwerere psychotische Störungen festgestellt. Bei Frauen standen dagegen<br />

leichtere psychische Störungen im Vordergr<strong>und</strong>, die zwar den Rahmen des «Normalen» überschritten,<br />

aber von den Psychiatern nicht als eigentliche Geisteskrankheiten bezeichnet wurden. Die Bereitschaft,<br />

leichtere Verhaltensauffälligkeiten zum Anlass für eine psychiatrische Begutachtung der Zurechnungsfä-<br />

higkeit zu nehmen, dürfte demnach bei Frauen grösser als bei Männer gewesen sein. Allerdings nahm im<br />

untersuchten Zeitraum auch bei den Männern der Anteil der «konstitutionellen Störungen» beträchtlich<br />

zu, wenngleich weniger markant als bei den Frauen.<br />

Eine genauere Untersuchung der 106 Diagnosen aus der Gruppe der konstitutionellen Störungen lässt die<br />

festgestellte geschlechtsspezifische Zuschreibung von Diagnosen noch deutlicher hervortreten. 741 Tabelle<br />

3 zeigt die Verteilung der Diagnosen auf die wichtigsten Untergruppen.<br />

Tabelle 3: Unterteilung der «konstitutionellen Störungen» nach Geschlecht (Angaben in Prozent)<br />

Untergruppen Männer Frauen<br />

1. Psychopathie 62,7 15,4<br />

2. Moralischer Schwachsinn 10,4 7,7<br />

3. Erbliche Belastung 13,4 7,7<br />

4. Sexuelle Perversionen 6,0 -<br />

5. Hysterie 1,5 59,0<br />

6. Neurasthenie 4,5 5,1<br />

7. Diverse 1,5 5,1<br />

100 (67) 100 (39)<br />

62,7 % der unter der Gruppe der «konstitutionellen Störungen» erfassten Männer erhielten die Diagnose<br />

«Psychopathie», respektive «abnorme Persönlichkeit». Dieser Anteil steigt auf 86,5%, wenn die Fälle mit<br />

der Diagnose «moralischer Schwachsinn» <strong>und</strong> «erbliche Belastung» dazugezählt werden. Bei den Frauen<br />

hatten diese Diagnosen indessen lediglich einen Anteil von 15,4%, respektive 30,8%. Bei Frauen wurde<br />

dagegen mit 59,0 % die Diagnose «Hysterie» signifikant häufiger gestellt als bei Männern. Bei den Frauen<br />

lauteten 32,4% aller gestellten Diagnosen auf «Hysterie». Bei der psychiatrischen Beurteilung männlicher<br />

Delinquenz spielte die Diagnose «Hysterie» hingegen kaum eine Rolle. 742 Dafür wurden «sexuelle Perver-<br />

sionen» in der Untersuchungsperiode nur bei Männern diagnostiziert. Die Frauen- <strong>und</strong> Geschlechterfor-<br />

schung hat seit einiger Zeit auf die Bedeutung der «Hysterie» bei der psychiatrischen Erfassung von sozia-<br />

ler Devianz <strong>und</strong> psychischem Leiden von Frauen aufmerksam gemacht. 743 Die angeführten Daten schei-<br />

nen diesen Bef<strong>und</strong> auch für den Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> zu bestätigen. Die Diagnose «Hyste-<br />

rie» oder die Annahme eines «hysterischen Charakters» diente den psychiatrischen Sachverständigen re-<br />

gelmässig dazu, kriminelles Verhalten von Frauen vor Gericht zu diskursivieren. 744 Sie konnten sich dazu<br />

sowohl auf einen traditionellen Begriff der «Hysterie», der «hysterisches Verhalten» auf die Funktionsweise<br />

741 Die erste Nennung einer zur Gruppe der «konstitutionellen Störungen» zu zählenden Diagnose datiert von 1890. Für die<br />

Erfassung der Einträge waren die nach 1895 unter den konstitutionellen Störungen aufgeführten Zustandsbilder massgeblich.<br />

742 Gemäss Zuppiger, 1999, 50, wurden in der Waldau zwischen 1880 <strong>und</strong> 1920 vier «Hysteriker» begutachtet; vgl. Weickmann,<br />

1997, 105.<br />

743 Vgl. Wüthrich, 1995.<br />

744 Weickmann, 1997, 60-63.<br />

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