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Psychiatrie und Strafjustiz

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fern, wenn das eingeklagte Delikt auf ihrem Kantonsgebiet nicht oder milder bestraft wurde. Zudem ver-<br />

hinderte das Gesetz nicht, dass Strafen, die in verschiedenen Kantonen verhängt wurden, kumuliert <strong>und</strong><br />

DelinquentInnen je nach Kanton unterschiedlich bestraft wurden. Den Schweizer Juristen war klar, dass<br />

unter diesen Umständen das Ideal einer tatvergeltenden Gerechtigkeit illusorisch bleiben musste. 355<br />

Auseinander gingen die Ansichten der Juristen indes über mögliche Reformvorhaben. Stooss lehnte die<br />

vorgeschlagene Teilrevision des Auslieferungsgesetzes als unzureichend ab <strong>und</strong> bezeichnete die Verein-<br />

heitlichung des materiellen Strafrechts als unabdingbare Voraussetzung für eine Lösung der Ausliefe-<br />

rungsproblematik. Die Erfahrung, so Stooss, lehre, «dass unter der Herrschaft der kantonalen Strafgesetze<br />

eine wirksame <strong>und</strong> erfolgreiche Bekämpfung des Verbrechertums in der Schweiz nicht möglich ist». Die<br />

«Zersplitterung <strong>und</strong> Schwächung der staatlichen Strafgewalt» führe zu einer «Schwächung <strong>und</strong> Verringe-<br />

rung des Strafrechtsschutzes», woraus sich ein gravierender Mangel an Sicherheit ergebe. 356 In den Stooss’<br />

Augen vermochte eine Reform des Auslieferungsgesetzes die konstatierten Missstände im Bereich der<br />

Strafrechtspflege nicht zu beseitigen. Was er verlangte, war vielmehr ein neues Regelwerk in Form eines<br />

gesamtschweizerischen Strafrechts. Stooss verband seine Forderung nach einem f<strong>und</strong>amentalen Lernprozess<br />

mit einer spezifisch schweizerischen Variante der Strafrechtskritik. Im Gegensatz zu den Strafrechts-<br />

reformern in Italien <strong>und</strong> Deutschland stellte er das geltende Schuldstrafrecht vorerst nicht in Frage, son-<br />

dern lokalisierte die Ursachen der vermeintlichen Ineffizienz der <strong>Strafjustiz</strong> primär im kantonalen Rechts-<br />

partikularismus: «Die hauptsächliche Ursache [des Mangels an Sicherheit] ist die Zersplitterung der kanto-<br />

nalen Strafgesetzgebung.» 357 Die von Stooss repräsentierte Fraktion konnte schliesslich insofern einen<br />

Erfolg verbuchen, als die vom Juristenverein 1887 verabschiedete Resolution <strong>und</strong> Eingabe die Beschlüsse<br />

über die Revision des Auslieferungsgesetzes mit der Forderung nach einer Inangriffnahme von Vorarbei-<br />

ten für die Strafrechtseinheit kombinierte. 358<br />

Stooss gab sich vor dem Juristenverein überzeugt, dass die Strafrechtseinheit einen «reichen Gewinn» für<br />

die schweizerische Strafrechtswissenschaft bedeute. 359 Zunächst galt es in seinen Augen aber, die erst in<br />

Ansätzen bestehende scientific community zu vernetzen <strong>und</strong> auf das Ziel der Strafrechtseinheit auszurichten.<br />

Diesen Zwecken sollte die von ihm 1888 gegründete Zeitschrift für Schweizer Strafrecht dienen, die 1896 in<br />

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht umbenannt wurde. 360 Um dem neuen «Organ der schweizerischen Straf-<br />

rechtswissenschaft» eine grosse Resonanz zu bescheren, warb Stooss nicht nur um die Mitarbeit der füh-<br />

renden Strafrechtler der Schweiz, sondern wandte sich auch an Vertreter des Strafvollzugs <strong>und</strong> der Psychi-<br />

atrie. 361 Mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung orientierte sich die Zeitschrift an der von Franz von Liszt<br />

herausgegebenen Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Zum Ausdruck kam das Bekenntnis zu der<br />

von der internationalen Reformbewegung eindringlich geforderten Interdisziplinarität ebenfalls im Unter-<br />

titel der neuen Zeitschrift. Dieser lautete: «Schweizerisches Centralorgan für Strafrecht, Strafprozessrecht,<br />

Gerichtsorganisation, Strafvollzug, Kriminalpolizei, gerichtliche Medizin <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>, Kriminalistik<br />

<strong>und</strong> Kriminalsoziologie». Mit der Zeitschrift für Schweizer Strafrecht verfügten die Verfechter der Strafrechts-<br />

einheit erstmals über eine Plattform zum Propagieren ihrer Reformanliegen. Die Redaktion, die in den<br />

355 Vgl. die Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, 26./27. September 1887, in: ZSR, 6, 1887, 638-659. Vgl. B<strong>und</strong>esgesetz<br />

über die Auslieferung von Verbrechern <strong>und</strong> Angeschuldigten vom 24. Juli 1852, AS 1853/54, 161-169. Das Auslieferungsgesetz<br />

von 1852 blieb weitgehend unverändert bis zur Inkraftsetzung des Strafgesetzbuchs am 1. Januar 1942 in Kraft.<br />

356 Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins, 26./27. September 1887, in: ZSR, 6, 1887, 664f.<br />

357 Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins, 26./27. September 1887, in: ZSR, 6, 1887, 665.<br />

358 Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins, 26./27. September 1887, in: ZSR, 6, 1887, 666; BAR E 4110 (A) -/42,<br />

Band 20, Petition des Schweizerischen Juristenvereins an den B<strong>und</strong>esrat, 7. November 1887.<br />

359 Verhandlungen des schweizerischen Juristenvereins, 26./27. September 1887, in: ZSR, 6, 1887, 665<br />

360 Vgl. Holenstein, 1996, 366-384; Schultz 1988; Stooss, 1925, 7.<br />

361 Vgl. SLA Ms Gq 70/2, Diverse Korrespondenzen zur Zeitschrift für Schweizer Strafrecht, 1887/88.<br />

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