13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

zeptuellen Gr<strong>und</strong>lagen der internationalen Strafrechtsreformbewegung der 1890er Jahren beschäftigen.<br />

Diese in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Studien haben unter anderem auf das hohe Ge-<br />

wicht hingewiesen, das prominente Strafrechtsreformer wie Franz von Liszt (1851–1919) oder Adolphe<br />

Prins (1845–1919) einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens im Rahmen ihrer Reformkonzepte bei-<br />

massen. 108 Was die Schweiz anbelangt, besteht inzwischen eine umfangreiche rechtshistorische Literatur<br />

zur Vereinheitlichung <strong>und</strong> Reform des Strafrechts. Wenngleich eine sozialhistorische Synthese dieses<br />

langwierigen Kodifikationsprozesses, wie sie für das Privatrecht Pio Caroni vorgelegt hat, nach wie vor<br />

aussteht, ist es der rechtshistorischen Forschung dennoch gelungen, die wesentlichen Konturen der<br />

schweizerischen Strafrechtsreform herauszuarbeiten. 109 Ebenfalls ins Blickfeld geraten ist dadurch die<br />

Entstehung einer schweizerischen Strafrechtswissenschaft im letzten Viertel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. 110 Trotz<br />

der inzwischen erreichten Forschungsdichte ist die Frage, welche Rolle Medikalisierungspostulate <strong>und</strong><br />

Bestrebungen zu einer Verwissenschaftlichung der <strong>Strafjustiz</strong> innerhalb der schweizerischen Strafrechtsre-<br />

form gespielt haben, bislang kaum systematisch diskutiert worden.<br />

Die rechtsgeschichtlichen Forschungsarbeiten konzentrieren sich allerdings nach wie vor stark auf die<br />

Ebene der juristischen Diskurse. Dementsprechend stützen sie sich meist ausschliesslich auf publizistische<br />

Quellen aus der Feder prominenter Juristen. Ausgeblendet bleiben dabei die Anwendung von Rechtsnor-<br />

men in der Justizpraxis <strong>und</strong> die Wechselwirkungen, die sich zwischen dem Justizalltag <strong>und</strong> der juristischen<br />

Dogmatik ergeben. Diesem Mangel abzuhelfen, ist ein zentrales Anliegen der historischen Kriminalitäts-<br />

forschung, die im Zuge der sozial- <strong>und</strong> mentalitätsgeschichtlichen Öffnung der Geschichtswissenschaft<br />

entstanden ist. KriminalitätshistorikerInnen interessieren sich weniger für die strafrechtsdogmatischen<br />

Diskussionen der Vergangenheit als für die gesellschaftliche Realität <strong>und</strong> soziale Bedingtheit von Delin-<br />

quenz. Standen zunächst ökonomische Erklärungen delinquenten Verhaltens im Vordergr<strong>und</strong>, so hat sich<br />

der Fokus seit den 1970er Jahren zunehmend auf die vielschichtigen Diskurse <strong>und</strong> Praktiken verlagert, als<br />

deren Effekte die Definition <strong>und</strong> Kriminalisierung abweichenden Verhaltens betrachtet werden müssen. 111<br />

Gefördert wurde diese Hinwendung zur sozialen Praxis durch Forschungspostulate der kritischen Krimi-<br />

nologie, die kriminelles Verhalten primär als Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse ansieht. 112 Dieser<br />

labeling approach wird dabei ergänzt durch Konzepte der sozialen Kontrolle, die von einer dynamischen Wechsel-<br />

seitigkeit von herrschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Integrationsbedürfnissen sowie formellen <strong>und</strong> informellen<br />

Normierungs- <strong>und</strong> Sanktionierungsprozessen ausgehen. Vertreter von social control-Ansätzen kriti-<br />

sieren denn auch die Tendenz einer normativ orientierten Strafrechtsgeschichte, Rechtsnormen gleichsam<br />

als Kondensat legitimer gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen zu betrachten. Im Gegenzug warnen sie<br />

davor, soziale Kontrolle ausschliesslich auf den Aspekt staatlicher Repression zu reduzieren <strong>und</strong> die Po-<br />

lymorphie sozialer Zuschreibungsprozessen zu unterschätzen. 113 Sowohl die kritische Kriminologie als<br />

auch die historische Kriminalitätsforschung gehen von der Selektivität sozialer Sanktionspraktiken aus. Straf-<br />

rechtliche Sanktionen stellen demnach lediglich Möglichkeiten unter anderen dar, soziale Konflikte auszu-<br />

tragen <strong>und</strong> zu bewältigen. Unbestritten ist allerdings, dass der Strafanspruch des modernen Rechtsstaats<br />

alternative Sanktionsmöglichkeiten bis zu einem gewissen Grad zurückzudrängen vermochte. Doch auch<br />

in diesem Fall zeigt sich, dass Strafverfahren Prozesse der informellen Sozialkontrolle vorgelagert sind, die<br />

108 Vgl. Ehret, 1996; Bellmann, 1994; Bohnert, 1992; Frommel, 1991; Frommel, 1987; Tulkens, 1986; Naucke, 1982; Tulkens/Digneffe,<br />

1981. Einen diskursanalytischen Ansatz verfolgt Andriopoulus, 1996.<br />

109 Vgl. Caroni, 1999.<br />

110 Vgl. Luminati, 1999; Criblez, 1997; Gschwend, 1996; Holenstein, 1996; Gauthier, 1994; Gschwend, 1994; Kaenel, 1981; Rusca,<br />

1981, Graven, 1951.<br />

111 Vgl. die neueren Forschungsüberblicke: Schwerhoff, 1999; Eibach, 1996; Becker, 1994.<br />

112 Vgl. Kunz, 1998, 43-38; Lamnek, 1997, 25-60.<br />

113 Sack, 1993; Lamnek, 1997, 60-69; Peters, 1989.<br />

31

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!