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Psychiatrie und Strafjustiz

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Kriminalpolitik, deren Ziel in der «Bekämpfung des Verbrechens als soziale Erscheinung» bestand. Straf-<br />

rechtswissenschaft <strong>und</strong> Gesetzgebung hätten daher die «Ergebnisse der anthropologischen <strong>und</strong> soziologi-<br />

schen Forschungen» zu berücksichtigen. Von Reformern wie Ferri oder von Liszt übernahm die IKV<br />

nicht nur die F<strong>und</strong>ierung der Kriminalpolitik auf einem humanwissenschaftlichen Strafwissen, sondern<br />

auch die «in theoretischer <strong>und</strong> praktischer Beziehung gr<strong>und</strong>legende Unterscheidung der Gelegenheits- <strong>und</strong><br />

Gewohnheitsverbrecher». Die «Unschädlichmachung» unverbesserlicher «Gewohnheitsverbrecher» gehör-<br />

te nebst der Einführung des unbestimmten Strafmasses <strong>und</strong> dem Ersatz kurzer Freiheitsstrafen zu ihren<br />

Hauptanliegen. 338<br />

Die Versammlungen der IKV beschäftigten sich mit der ganzen Bandbreite strafrechtlicher Reformanlie-<br />

gen. Nebst der Umgestaltung einzelner Sanktionsformen thematisierten die Sitzungen etwa die Entwick-<br />

lung des Strafrechts in den verschiedenen Ländern, Fragen der Kriminalstatistik oder die Einführung eines<br />

speziellen Jugendstrafrechts. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Tätigkeit der IKV erhielten Dis-<br />

kussionen über eine Umgestaltung des Strafrechts im Sinne eines Massnahmenrechts, wie es von Ferri,<br />

von Liszt oder Prins gefordert wurde. Auf den Versammlungen in Brüssel (1889), Bern (1890) <strong>und</strong> Kristiania<br />

(1891) diskutierten die Mitglieder der IKV Möglichkeiten, die Kategorie des «unverbesserlichen Ge-<br />

wohnheitsverbrechers» justiziabel zu definieren. Eng damit verb<strong>und</strong>en war die Frage der zweckmässigen<br />

Behandlung des Rückfalls. 339 1905 nahm die Versammlung in Hamburg diese Thematik wieder auf. Im<br />

Zentrum stand nun der Vorschlag von Prins, den Begriff des état dangereux an die Stelle des bisher strafbe-<br />

stimmenden Moments der verschuldeten Tat zu setzen. Damit diskutierte die IKV erstmals die konse-<br />

quente Preisgabe des bisherigen Schuldstrafrechts zugunsten eines allein auf Persönlichkeitsmerkmale<br />

abstellendes Massnahmenrechts. Auf den Versammlungen von 1910 <strong>und</strong> 1913 versuchte die IKV, den<br />

Begriff der «Gemeingefährlichkeit» in Bezug auf die strafrechtliche Behandlung verschiedener Gruppen<br />

von «gefährlichen Individuen» zu präzisieren, wobei nebst den «Rückfälligen» die Gruppe der «Defekten»<br />

sowie die «aufgr<strong>und</strong> ihres allgemeinen Lebensführung» als «gemeingefährlich» einzustufenden «Vagabun-<br />

den <strong>und</strong> Zuhälter» ins Auge gefasst wurden. Die Tagungsreferenten plädierten dabei nicht nur für den<br />

Ersatz bisheriger Strafen durch unbefristete Sicherungsmassregeln, sondern auch für eine Ausweitung des<br />

staatlichen Sanktionsanspruchs über die Begehung einer Straftat hinaus. 340 Auch wenn die IKV – nicht<br />

zuletzt wegen rechtsstaatlicher Bedenken einzelner Mitglieder – vor dem Ersten Weltkrieg zu keinem abschliessenden<br />

Konsens fand, so schloss sie mit der Diskussion eines Programms der «sozialen Verteidi-<br />

gung» doch jene Lernprozesse ab, die seit den 1870er Jahren auf eine Umgestaltung des Strafrechts hinar-<br />

beiteten.<br />

Fazit: Medikalisierungstendenzen als Ergebnis <strong>und</strong> Ausgangspunkt kriminalpolitischer Lernpro-<br />

zesse<br />

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts gewannen Tendenzen zu einer Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens in- <strong>und</strong> ausserhalb der <strong>Psychiatrie</strong> zunehmend an Gewicht. Psychiatrische Deutungsmuster wie<br />

das Konzept der «psychopathischen Persönlichkeiten», die im Anschluss an die Degenerationstheorie<br />

entwickelt worden waren, wiesen im Vergleich zu den früheren Spezialmanien einen deutlich weiterge-<br />

henden Erklärungsanspruch auf <strong>und</strong> akzentuierten dadurch die Problematisierung des Axioms der indivi-<br />

duellen Verantwortlichkeit. Diese Entwicklung ging zeitlich mit Veränderungen auf der Ebene der juristi-<br />

schen Konzepte einher. Hatten Juristen der ersten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte wie Elias Regnault oder Carl-Ernst<br />

338 Lilienthal, 1889.<br />

339 Bellmann, 1994, 55-60.<br />

340 Bellmann, 1994, 92-105; Radzinowicz, 1991, 32-47; vgl. Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 17, 1910, 110-<br />

116; 185-202, 423-496.<br />

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