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Psychiatrie und Strafjustiz

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Sachverständigen in diesen Fällen eindeutige Zeichen von Geisteskrankheit oder Intelligenzminderungen<br />

festgestellt. Dass Geisteskranke im engeren Sinn strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden<br />

konnte, gehörte im Untersuchungszeitraum längst zum Gr<strong>und</strong>konsens zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Psychiat-<br />

rie. Ebenfalls kaum Anlass zu Differenzen gaben Fälle, bei denen die Psychiater von sich aus eine Ver-<br />

minderung der Zurechnungsfähigkeit ausschlossen. Im bereits erwähnten Fall von Emil B., dem der zu-<br />

ständige Staatsanwalt das Einholen eines Gutachtens als «Verteidigungsmittel» zugestanden hatte, lautete<br />

das Gutachten der Waldau auf volle Zurechnungsfähigkeit. Dementsprechend verlangte der Staatsanwalt<br />

eine hohe Zuchthausstrafe für den eingeklagten Raub. Aufgr<strong>und</strong> des eindeutigen Gutachtens sah sich<br />

selbst der Verteidiger nicht mehr im Stande, auf verminderte Schuldfähigkeit zu plädieren <strong>und</strong> verlangte<br />

stattdessen mildernde Umstände. Geschworene <strong>und</strong> Gericht folgten diesen Anträgen <strong>und</strong> verurteilten<br />

Emil B. als voll zurechnungsfähig zu acht Jahren Zuchthaus. 1079 Dass DelinquentInnen, die die Sachver-<br />

ständigen für zurechnungsfähig befanden, kaum Chancen auf eine Strafmilderung wegen verminderter<br />

Schuldfähigkeit hatten, zeigt auch das Beispiel von Edwin G., der 1918 wegen Diebstahls vor Gericht<br />

stand. In einem Vorgutachten zuhanden des zuständigen Untersuchungsrichters waren zwei Psychiater der<br />

Waldau zum Schluss gekommen, dass kein Anlass bestehe, an der Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Die<br />

Anordnung einer eigentlichen Begutachtung erübrige sich deshalb. Diese eindeutige Aussage hatte vor<br />

Gericht zur Folge, dass dem Geschworenen nicht einmal mehr die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit<br />

des Angeklagten vorgelegt wurde. 1080<br />

Im Gegensatz zur Verneinung oder Bejahung der Zurechnungsfähigkeit oblag es bei der Annahme einer<br />

verminderten Zurechnungsfähigkeit der Kriminalkammer, die für ein Delikt vorgesehene Strafe zu mil-<br />

dern. Solche Fälle eröffneten den Berufsrichtern beträchtliche Ermessensspielräume bei der Berücksichti-<br />

gung psychiatrischer Gutachten. Dies zeigt beispielhaft der Fall von Luise W., die sich zusammen mit<br />

ihren Kindern hatte umbringen wollen. In diesem Fall nahmen die Geschworenen eine verminderte Zu-<br />

rechnungsfähigkeit an. Der Kriminalkammer erschien daraufhin die Annahme einer Verminderung der<br />

Willensfreiheit um «etwa 75%» als gerechtfertigt. Entgegen dem psychiatrischen Gutachten stellte sie fest,<br />

dass Luise W. ihre Straftaten «ziemlich raffiniert <strong>und</strong> berechnend vorbereitet» habe, so dass nicht von<br />

einer Affekthandlung gesprochen werden könne. In Anbetracht der Qualifizierung der Delikte als Mord<br />

<strong>und</strong> Mordversuch setzte die Kriminalkammer das Strafmass auf vier Jahre Zuchthaus fest. Zusätzlich<br />

überwies sie die Akten an den Regierungsrat zur Verhängung sichernder Massnahmen. 1081 Zieht man in<br />

Betracht, dass das Berner Strafgesetz für Mord maximal eine lebenslängliche Zuchthausstrafe vorsah, so<br />

wird die Strafmilderung aufgr<strong>und</strong> der verminderten Zurechnungsfähigkeit deutlich.<br />

Im Fall von Emilia R., die von den Geschworenen bei Annahme einer verminderten Zurechnungsfähig-<br />

keit wegen Beihilfe zu Niederkunftsverheimlichung verurteilt worden war, berief sich die Kriminalkammer<br />

bei der Begründung der Strafmilderung ausdrücklich auf die von den Psychiatern festgestellte «Geistesschwachheit»:<br />

«Strafmildernd fällt dagegen in Betracht, dass E.R. von Jugend an Geistesschwachheit leidet,<br />

welche ihre Widerstandskraft wesentlich beeinträchtigt. Diese geistige Schwerfälligkeit hat im Ferneren<br />

dazu beigetragen, dass das unerwartet rasche Einsetzen der Geburt [ihrer Tochter] sie in Aufregung <strong>und</strong><br />

einen Zustand der Überreiztheit versetzte, welcher die Zurechnungsfähigkeit, wenn auch nicht ganz auf-<br />

hob, doch in bedeutendem Masse minderte.» 1082 Die Kriminalkammer übernahm in diesem Fall das psy-<br />

1079 StAB BB 15.4, Band 104, Verhandlung der Assisen gegen Emil B., 23./24. April 1908.<br />

1080 StAB BB 15.4, Band 2076, Dossier 1752, Psychiatrisches Gutachten über Edwin G., 25. April 1918; StAB BB 15.4, Band 124,<br />

Verhandlung der Assisen gegen Edwin G., 28. Juni 1918.<br />

1081 StAB BB 15.4, Band 105, Verhandlung der Assisen gegen Luise W., 24. Oktober 1908.<br />

1082 StAB BB 15.4, Band 95, Verhandlung der Assisen gegen Emilia R., 27. Oktober 1903.<br />

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