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Psychiatrie und Strafjustiz

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kann <strong>und</strong> der den involvierten AkteurInnen verschiedene Handlungsoptionen eröffnet. Trotz der in Kapi-<br />

tel 6.1. festgestellten Expansion der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern wurde im Untersu-<br />

chungszeitraum nur ein vergleichsweise kleiner Anteil aller DelinquentInnen von den Justizbehörden zur<br />

psychiatrischen Begutachtung überwiesen. Umso mehr stellt sich die Frage, welche Fälle in diesem Selek-<br />

tionsfilter gleichsam «hängen blieben» oder, wie sich ein Zürcher Psychiater pathetisch ausdrückte, über-<br />

haupt der «Wohltat einer Begutachtung teilhaftig» wurden. 772 Dieses Unterkapitel untersucht deshalb,<br />

welche Umstände <strong>und</strong> Konstellationen in der Justizpraxis den Ausschlag für die Anordnung einer psychi-<br />

atrischen Begutachtung gaben <strong>und</strong> damit am Anfang einer potenziellen Medikalisierung kriminellen Ver-<br />

haltens standen.<br />

Auftragserteilungen <strong>und</strong> Fragestellungen<br />

Psychiatrische Gutachten konnten gr<strong>und</strong>sätzlich in allen Phasen eines Strafverfahrens angeordnet werden.<br />

Von den 78 im Rahmen dieser Arbeit systematisch ausgewerteten Gutachten wurden 68 (87%) im Laufe<br />

der Voruntersuchung <strong>und</strong> zehn (13%) in Gerichtsverhandlungen angeordnet. 773 Eine entscheidende Rolle<br />

bei der Anordnung psychiatrischer Gutachten kam demnach den Untersuchungsbehörden zu. Als Auf-<br />

traggeber fungierten dabei meist die Untersuchungsrichter oder Staatsanwälte, seltener die Anklagekam-<br />

mer oder die Strafkammer des Obergerichts. In diesen Fällen erfolgten die Begutachtungsaufträge durch<br />

ausgebildete Juristen, die sich hauptamtlich mit der Strafverfolgung befassten. In Fällen, wo eine Begut-<br />

achtung erst im Stadium der Hauptverhandlung angeregt wurde, erfolgte der Auftrag durch den Präsiden-<br />

ten des zuständigen Gerichts, im Fall der Geschworenengerichte durch die Kriminalkammer. So genannte<br />

Parteiengutachten, die etwa von der Verteidigung in eigener Regie in Auftrag gegeben wurden, befinden<br />

sich in den untersuchten Gutachten keine. In mehreren Fällen beantragten dagegen Anwälte bei den Jus-<br />

tizbehörden die Anordnung einer Begutachtung.<br />

Das Berner Strafverfahren verpflichtete die Justizbehörden, ihre Begutachtungsaufträge mit konkreten<br />

Fragestellungen zu versehen. 774 Solche Fragestellungen orientierten sich an den Wissensbedürfnissen der<br />

Justizbehörden <strong>und</strong> lehnten meist sich eng an die Formulierungen der entsprechenden Gesetzesbestimmungen<br />

an. Im Untersuchungszeitraum beauftragten die Justizbehörden die psychiatrischen Sachverstän-<br />

digen in der Regel mit der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit der Angeschuldigten. Dazu kam in vielen<br />

Fällen die Frage nach der «Gemeingefährlichkeit» <strong>und</strong> der Angemessenheit sichernder Massnahmen. In<br />

einigen Fällen fragten die Justizbehörden in allgemeiner Art <strong>und</strong> Weise nach dem «Geisteszustand» oder<br />

der «Normalität» des Angeschuldigten. Eine gängige Fragestellung hatten die Sachverständigen im Fall von<br />

Hans Rudolf W. zu beantworten: «1. Befand sich W. zur Zeit der Begehung der Delikte, deren er ange-<br />

schuldigt ist, ohne sein Verschulden in einem Zustand, in welchem er sich seiner Handlungen oder der<br />

Strafbarkeit derselben nicht bewusst war? Eventuell: 2. War das Bewusstsein oder die Willensfreiheit des<br />

W. nicht ganz aufgehoben, sondern nur vermindert? 3. Muss W. als gemeingefährlich taxiert werden <strong>und</strong><br />

ist es nicht angezeigt, denselben in einer entsprechenden Anstalt unterzubringen?» 775 Die erste Frage des<br />

Untersuchungsrichters lehnte sich eng an die Formulierung von Artikel 43 des Berner Strafgesetzbuchs<br />

an. Die zweite Frage berücksichtigte die Möglichkeit einer nur verminderten Zurechnungsfähigkeit. Die<br />

letzte Frage betraf die Angemessenheit von «Sicherungsmassregeln».<br />

772 Manser, 1932, 13.<br />

773 Vgl. die vergleichbaren Ergebnisse bei: Steiger, 1901, 7f.<br />

774 StV, Artikel 103: «Die von den Sachverständigen zu beantwortenden Fragen werden von dem Untersuchungsrichter gestellt.»<br />

775 StAB BB 15.4, Band 1743, Dossier 9639, Psychiatrisches Gutachten über Hans Rudolf W.<br />

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