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Psychiatrie und Strafjustiz

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10 Die Politisierung der Strafrechtsreform: Die Verabschiedung des Strafgesetzbuchs<br />

Seit den 1890er Jahren wurde die schweizerische Strafrechtsdebatte, wie sie in Kapitel 4 dargestellt worden<br />

ist, massgeblich von Fachleuten geprägt, die sich als Juristen, Strafvollzugsbeamte oder Ärzte beruflich mit<br />

strafrechtlichen Fragen beschäftigten. Auch die Parlamentsdebatte von 1897/98 stellte in dieser Hinsicht<br />

nur ein kurzes Intermezzo dar. Erst mit der Botschaft des B<strong>und</strong>esrats über das Strafgesetzbuch vom Juli<br />

1918 verlagerte sich die Strafrechtsdebatte definitiv auf die politische Ebene. Konsequenz dieser Politisie-<br />

rung war eine Entwicklung, deren Dynamik wesentlich durch den Charakter der Strafrechtseinheit als<br />

staats- <strong>und</strong> kriminalpolitische Doppelreform geprägt war. Hatten im Rahmen der Expertendebatten Fra-<br />

gen der materiellen Reform des Strafrechts klar im Vordergr<strong>und</strong> gestanden, so verschoben sich auf der<br />

politische Ebene die Diskussionen – wie bereits 1898 – zusehends zur staatspolitischen Gr<strong>und</strong>satzfrage<br />

über die Rechtseinheit. Diese Verschiebung veränderte zugleich den Kontext der Debatte um eine teilwei-<br />

se Medikalisierung des Strafrechts. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, verlief diese Modifikation indes<br />

keineswegs gradlinig. So verloren auf der einen Seite radikale Medikalisierungsbestrebungen, wie sie seit<br />

den 1890er Jahren von Strafrechtsreformern <strong>und</strong> Psychiater vorgebracht worden waren, in der Zwischen-<br />

kriegszeit weitgehend an Gewicht. Die Parlamentsmehrheit stellte die von der Expertenkommission von<br />

1912 formulierte pragmatisch-regulative Kriminalpolitik nicht gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage, so dass die von<br />

Stooss konzipierte Verbindung von Strafen <strong>und</strong> sichernden Massnahmen die Ratsdebatten praktisch un-<br />

beschadet überstand. Auf der andern Seite hatte die in den 1930er Jahren festzustellende Einengung der<br />

Strafrechtsdebatte auf die staatsrechtliche Gr<strong>und</strong>satzfrage der Rechtseinheit zur Folge, dass die nach wie<br />

vor bestehenden kriminalpolitischen Differenzen an politischer Relevanz einbüssten. Die beiden folgen-<br />

den Unterkapitel untersuchen den widersprüchlichen Stellenwert der ursprünglich von den Strafrechtsre-<br />

formern eingebrachten Medikalisierungspostulate im Kontext der Strafrechtsdebatte der Zwischenkriegs-<br />

zeit. Im Zentrum steht die politische Behandlung der für die forensisch-psychiatrische Praxis in erster<br />

Linie relevanten Bereiche der strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> der sichernden Massnahmen. Nur<br />

am Rande thematisiert werden dadurch die Kontroversen um Fragen der Abtreibung <strong>und</strong> des Sexualstraf-<br />

rechts, welche ebenfalls unter Beteiligung der Schweizer Psychiater stattfanden. 1337<br />

10.1 Zwischen Staats- <strong>und</strong> Kriminalpolitik: Medikalisierungspostulate im Rahmen der parla-<br />

mentarischen Strafrechtsdebatte<br />

Die parlamentarische Behandlung des Strafgesetzbuchs war ein langwieriges Unterfangen. Erst zehn Jahre<br />

nach der Veröffentlichung der b<strong>und</strong>esrätlichen Botschaft beschäftigte sich der Nationalrat als Erstrat mit<br />

der Vorlage. Ein wesentlicher Gr<strong>und</strong> für diese Verzögerung war die Priorisierung des Militärstrafrechts<br />

nach dem Ersten Weltkrieg. Nachdem die Militärjustiz während des Aktivdiensts unter massiven politi-<br />

schen Druck geraten war, hatte das Parlament 1919 beschlossen, die Revision des veralteten Militärstraf-<br />

rechts dem bürgerlichen Strafrecht vorzuziehen. 1338 Die Kommission des Nationalrats beschäftigte sich<br />

zwischen 1921 <strong>und</strong> 1929 mit dem Strafgesetzbuch; im Frühjahr 1928 nahm dann der Nationalrat als Erst-<br />

rat die Beratung auf. Die Behandlung der Vorlage im Ständerat erfolgte 1931. Die Differenzbereinigung<br />

zwischen den Räten nahm weitere sechs Jahre in Anspruch. Am 21. Dezember 1937 verabschiedeten bei-<br />

de Kammern das Strafgesetzbuch definitiv. Im Folgenden werden die Eintretensdebatten sowie die De-<br />

1337 Zur Abtreibungsdebatte: Helwing, 1989, 33-67. Im Bereich des Sexualstrafrechts gab vor allem die Beurteilung der Homosexualität<br />

Anlass zu Diskussionen. Den Schweizer Psychiatern wurde in diesem Zusammenhang die Möglichkeit geboten, vor der<br />

Nationalratskommission ihre Haltung darzulegen. Vgl. BAR E 4110 (A) -/42, Band 63, Protokoll der Kommission des Nationalrats<br />

betreffend das schweizerische Strafgesetzbuch, 14. November 1929.<br />

1338 Vgl. BAR E 4110 (A), -/43, Band 121, Protokoll der Sitzung der vereinigten Kommissionen des Nationalrates <strong>und</strong> des Ständerates<br />

für das schweizerische Strafgesetzbuch <strong>und</strong> das neue Militärstrafgesetzbuch, 21. Januar 1919; Studer, 1984, 97-127.<br />

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