13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Grafik 2: Anträge auf sichernde Massnahmen gegen Unzurechnungsfähige (ZU) <strong>und</strong> vermindert Zurech-<br />

nungsfähige (VZ) aufgr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs 1895–1920<br />

Anträge<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

1895<br />

1897<br />

1899<br />

1901<br />

1903<br />

1905<br />

1907<br />

Jahre<br />

1909<br />

ZU VZ<br />

Grafik 2 zeigt die Verteilung der Anträge auf die einzelnen Jahre. Auffallend sind die Minimal- <strong>und</strong> Maxi-<br />

malwerte in den Jahren 1900–1902, 1910, 1913, 1915/16 <strong>und</strong> 1920. Diese Werte müssen als statistische<br />

Schwankungen betrachtet werden, die sich aus der Entwicklung der Begutachtungspraxis nicht direkt<br />

erklären lassen. Nicht schlüssig belegen lässt sich jedenfalls ein Zusammenhang dieser Schwankungen mit<br />

der in Kapitel 5.1 behandelten Debatte über die Befugnis der Untersuchungsbehörden, direkt beim Regie-<br />

rungsrat Anträge auf sichernde Massnahmen zu stellen. Darüber, ob die Unsicherheit in dieser Frage zu<br />

einer zurückhaltenden Antragspraxis geführt hat, lassen sich nur Vermutungen anstellen. Deutlich wird<br />

aber, dass sich die Zahl der beantragten sichernden Massnahmen zwischen den Fünfjahresperioden 1901–<br />

1905 <strong>und</strong> 1906–1910 mehr als verdoppelte. 1901–1905 wurden 32, 1906–1910 80 Anträge auf sichernde<br />

Massnahmen gestellt. In den folgenden beiden Fünfjahresperioden blieb die Zahl der Anträge dann weit-<br />

gehend konstant.<br />

Die Zunahme der Anträge auf sichernde Massnahmen erfolgte damit mit einer leichten Verspätung, aber<br />

insgesamt doch parallel zu der in Kapitel 6.1 festgestellten Ausweitung der psychiatrischen Begutach-<br />

tungspraxis. Zieht man in Betracht, dass die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» aufs Engste mit der<br />

Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit verb<strong>und</strong>en war, so zeigt diese Parallelität, dass sich die wachsende<br />

Problematisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in der Berner Justizpraxis letztlich in einer (par-<br />

tiellen) Ausdifferenzierung des institutionellen Zugriffs auf StraftäterInnen niederschlug. Der wiederholt<br />

konstatierte Trend zu einer zunehmenden Medikalisierung kriminellen Verhaltens vollzog sich somit so-<br />

wohl auf der Ebene der Deutungsmuster, als auch auf institutioneller Ebene. Wie reibungslos sich diese<br />

Ausdifferenzierung im Kanton Bern vollzog, zeigt die geringe Zahl der vom Regierungsrat abgelehnten<br />

Anträge. Zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 verneinte die Regierung lediglich in zehn Fällen die Anwendbarkeit von<br />

Artikel 47 (3,1%). Zwischen 1911 <strong>und</strong> 1920 lehnte die Regierung keinen einzigen Antrag mehr ab. Die<br />

Zustimmung der Regierung zu den Anträgen der Justizbehörden bekam demnach mehr <strong>und</strong> mehr den<br />

Charakter einer blossen Formalität. Am Beispiel des Kantons Bern zeigt sich somit, dass die Aneignung<br />

psychiatrischer Deutungsmuster durch die Justizbehörden keineswegs, wie konservative Juristen im Rah-<br />

1911<br />

1913<br />

1915<br />

1917<br />

1919<br />

275

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!